Wenn die Kälte überhand nimmt
(31 Juli 2017)
Fünf ist eine magische Zahl. Fünf Jahre ausschließlich mit kaltem Wasser und Ofenheizung, mit nur zwei Scheinwerfern und einer handbetriebenen Drehbühne. Alles in allem fünf Jahre Theaterabende unter „idyllischen“ Verhältnissen in einem fünf mal fünf Quadratmeter großen Wohnzimmer eines verlassenen Hauses im alten, historischen Stadtkern von Bukarest – bei spürbarer Kälte durchaus empfehlenswert die Jacken im Winter anzulassen.
Unter diesen prekären Umständen kämpfte sich das vom enthusiastischen Regisseur-Ehepaar Andrei und Andreea Grosu 2010 ins Leben gerufene UNTEATRU (Ein Theater, Ü.d.A.) durch. Nichtsdestotrotz waren nur restlos ausverkaufte Produktionen zu verzeichnen. Mit einem breit gefächerten Repertoire von Shakespeare, Tschechow, Beckett, Edward Albee, Tennessee Williams, Harold Pinter, Morris Panych oder Adaptionen nach Cormac McCarthy und Wenedikt Jerofejew, entwickelte sich die Spielstätte sehr schnell zum beliebtesten Theater der Bukarester Freien Szene. So ist es nicht verwunderlich, dass schon 2013 der „Theater von morgen“-Preis der Internationalen Vereinigung der Theaterkritiker an UNTEATRU für Tennessee Williams Endstation Sehnsucht verliehen wurde. Eine bewundernswerte Leistung, die größtmögliche Wirkung mit minimalistischen Mitteln im winzigen Spielraum erzielte und noch dazu den zahlreichen ausländischen Besuchern eine Übertitelung in englischer Sprache bot.
Im Herbst 2015 nahm diese räumliche Einschränkung ein Ende. UNTEATRU zog in einen größeren Saal um. Mit einem professionell ausgestatteten Spielraum von 100 Plätzen ist ein großer Schritt voran gemacht. Weitere 80 Plätze sind in einem zu einer Bar eingerichteten Nebenzimmer vorhanden. Denn UNTEATRU versteht es als seine Mission, junge Künstler zu fördern, unabhängige Produktionen zu entwickeln, einen Proberaum zu schaffen und zur kulturellen Weiterbildung beizutragen. Neben Theateraufführungen werden regelmäßig verschiedene hochkarätige Kulturveranstaltungen wie Filmprojektionen, Konzerte und Debatten organisiert. Kreativität hat oberste Priorität, vor allem aber auch der Wunsch der Zuschauer. Zudem findet seit 2014 eine Woche lang Ende Juli das Festival „Die Unteatru-Tage“ statt.
Inzwischen ist das Regisseur-Duo Grosu eingeladen worden, auch an staatlichen Theatern in Bukarest zu inszenieren. Zugleich sind die beiden bestrebt, weiterhin das Repertoire von UNTEATRU zu erweitern, um die einmalige Präsenz ihres Theaters in der rumänischen Szene auszubauen. So kam es nicht überraschend, dass Ende 2016 Lars Norens Stück Kälte in der Regie von Alexandru Bogdan Premiere bei UNTEATRU feierte. Der auf einem authentischen Fall basierende Text, bei dem Skinheads 1995 in Schweden unweit von Göteborg einen Ausländer umbrachten, behandelt brandaktuelle Themen: die Ausländerfeindlichkeit und den Aufschwung des Rechtsextremismus in Europa. Keith, Anders und Ismael sind drei stinkfaule Schüler, die den Ferienanfang feiern, indem sie sich im Wald besaufen. Dabei schimpfen sie über den schlechten Zustand der Gesellschaft und machen die eingewanderten Ausländer dafür mitverantwortlich. Und da kommt Kalle, ein Mitschüler, vorbei. Ein intelligenter, gebürtiger Koreaner, Adoptivkind wohlhabender schwedischer Bürger. Er hat erfolgreich seine Matura-/Abitur-Prüfung bestanden und ist auf dem Weg zu seiner Familienfeier. Doch dazu soll es nicht mehr kommen. Nachdem er mehrmals gezwungen wird Bier zu trinken, sich Neonazi-Parolen anzuhören, den Hitlergruß nachzumachen (was er verweigert), wird Kalle von seinen streitsüchtigen Kollegen kaltblütig ermordet.
Alexandru Bogdans Inszenierung ist geprägt von einem minimalistischen Bühnendesign: Auf dem Boden liegen drei große, mit Stroh gefüllte Säcke. Sie dienen als Sitzgelegenheit, vor allem eignen sie sich sehr gut für die Gewaltakte der drei Unruhestifter. Die Inszenierung kommt ohne Musikuntermalung aus und hebt somit die hervorragende schauspielerische Leistung der vier männlichen Schauspieler hervor. Die Resonanz auf Kälte war jedenfalls sehr gut, und UNTEATRU erhielt sogar eine Einladung zum Internationalen Theaterfestival in Hermannstadt für Juni 2017. Die Produktion wirkt stimmig und macht nachdenklich. Umso mehr, da sich die Schauspieler in der Anfangsszene dem Publikum mit echtem Namen und Alter vorstellen. Eine übliche Vorgangsweise in der heutigen rumänischen Theaterszene, die sich bemüht, eine direkte Verbindung zwischen Darsteller und Zuschauer herzustellen.
In revolutionärer Mission auf der Erde
(25 April 2017)
Die freie Szene in Bukarest hat seit November 2016 eine neue, geradezu genial zentral gelegene Spielstätte. Aufgrund ihrer Mission, professionelle und qualitativ hochwertige zeitgenössische Produktionen zu erschaffen, entschieden sich die Gründer für Apollo111 in Anlehnung an den 1961 ersten erfolgreichen bemannten Flug zum Mond der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA. Gleichzeitig soll der Name an den Gott der Künste und Beschützer der Poesie und Musik der griechischen Mythologie erinnern. Apollo111 ist aber mehr als nur ein Theater. Es ist ein Ort der Begegnung, der Experimente. Denn neben dem modern ausgerüsteten Kellersaal mit einer Kapazität von 140 Sitzplätzen für Theater oder Kino stehen noch ein Raum für Konzerte, eine Bibliothek, drei Probe- und zwei Casting-Zimmer sowie eine Bar-Terrasse zur Verfügung.
Das von Bogdan Dumitrache (Schauspieler), Cătălin Rusu (Werbeagenturleiter), Dragoș Vîlcu (Produzent) und Călin-Peter Netzer[1] gegründete Kulturzentrum besticht vor allem durch sein revolutionäres Konzept: Jede Spielsaison wird von einem unterschiedlichen Künstler kuratiert und widmet sich schwerpunktmäßig einem Thema. Zudem steht jede der Apollo111-Eigenproduktionen nur sechs Wochen lang auf dem Programm. „Apollo111 ist aus der Notwendigkeit entstanden, dass die Nachfrage nach künstlerisch wertvollen Inszenierungen der freien Szene drastisch gestiegen ist“, sagt Bogdan Dumitrache, zugleich Kurator der ersten Spielsaison.
Diese bietet Theater und Film, zeigt aber auch Produktionen für Kinder. Darüber hinaus verfolgt sie einen interdisziplinären Ansatz, der sowohl (inter-)kulturelle als auch (inter-)mediale Perspektiven aufnimmt. Somit ist es kein Wunder, dass bekannte Filmregisseure eingeladen wurden, den Spielplan mitzugestalten. Für die Eröffnungsfeier zeigte Radu Jude Ali - Angst essen Seele auf, eine Bühnenumsetzung des gleichnamigen filmischen Werkes von Rainer Werner Fassbinder. Schon seit zwei Jahren ist der weltbekannte rumänische Filmemacher, dessen Streifen Aferim! 2015 mit dem Silbernen Bären für den besten Regisseur ausgezeichnet wurde, in der Theaterszene aktiv. Sein Bühnendebüt gab Jude 2016 am Nationaltheater „Mihai Eminescu“ in Temeswar mit Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman. Ein Jahr später folgte am selben Haus Die Kontroverse von Valladolid von Jean-Claude Carrière. Und dazwischen die Inszenierung von Fassbinders 1974er Melodram. Dass dessen Thema in der heutigen Flüchtlingsproblematik nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat, ist ebenso verblüffend wie erschütternd.
Nach dem Regen hieß die zweite Eigenproduktion von Apollo111. Auch das 1993 entstandene Stück von Sergi Belbel ist aktueller denn je. In der fiktiven Welt des renommierten katalanischen Autors hat es seit zwei Jahren nicht mehr geregnet. Hubschrauber kollidieren immer wieder mit Wolkenkratzern. Überdies gibt es des Öfteren Selbstmordversuche von den Dächern der Hochhäuser. Darüber hinaus wird Mitarbeitern eines Großunternehmens das Rauchen am Arbeitsplatz komplett verboten. Daher schleichen sie sich auf die Terrasse des Gebäudes, um heimlich zu rauchen. Sekretärinnen, Informatiker, Postboten oder Direktoren. Alle verletzen das Rauchverbot. Und bei diesen illegalen Zigarettenpausen kommt es immer mehr zu Debatten über gravierende persönliche Probleme. „Seit 2015, als ich beschloss Nach dem Regen zu inszenieren, scheint die Welt von einer kollektiven Hysterie erfasst zu sein. Zukunftsangst hat sich zu einem massenpsychologischen Phänomen aufgeschaukelt, egal ob in Europa, Amerika oder Russland“, sagt Regisseur Alexandru Maftei. Dennoch gibt es eine Rettung: die Liebe.
Vielversprechend verlief der Neustart der Spielstätte Apollo111, die von der Bank BRD - Groupe Société Générale unterstützt wird. Man darf also gespannt sein, was für ein Thema und welche Künstler der populäre Theaterregisseur Radu Afrim, Kurator der nächsten Spielsaison, vorschlagen wird.
[1] International bekannter Filmregisseur, dessen Film Mutter & Sohn 2013 den Goldenen Bären der 63. Berlinale erhielt und worin Bogdan Dumitrache eine der Hauptrollen spielte.