Die Gegenwart der Tragödie

 

Oana Cristea Grigorescu

 

Seit über drei Monaten verschiebe ich das Schreiben dieses Essays über Andrei Măjeri (geb. 1990), zumal ich andauernd Ausschau nach einer weiteren Premiere von ihm in Bukarest oder anderorts in Rumänien halte. Ein aktueller Beitrag auf seiner Facebook-Seite kommt mir zu Hilfe. Darin listet er die Plakate der dreizehn Inszenierungen, die er nach seinem Regie-Master-Abschluss 2014 an der Fakultät für Theater und Fernsehen der Klausenburger Babeş-Bolyai-Universität gemacht hat, auf. Indessen stelle ich fest, dass ich fast jede Produktion seit seinem Debüt in einem professionellen Theater gesehen habe.

 Begonnen hat alles mit Die Pandorabüchse von Katalin Thuróczy, 2014 in Szene gesetzt am Nationaltheater Klausenburg (mit Miriam Cuibus in der Hauptrolle). Es war ein Blankoscheck für den jungen Absolventen, ausgestellt von Mihai Măniuţiu, dem Direktor des gleichnamigen Theaters. Danach folgten im Durchschnitt drei Inszenierungen pro Jahr (eine Werkliste befindet sich am Ende des Beitrags). Die Analyse von Măjeris Arbeiten liefert einige maßgebliche Merkmale für das Profil des Nachwuchsregisseurs.

 

In den letzten sechs Jahren öffneten sich die Repertoiretheater durch mehr oder weniger großzügige Finanzierungsprogramme für die junge Generation, was zu einer Fülle von neuen Künstlernamen in der rumänischen Theaterszene führte. Die erfolgreiche Teilnahme an zwei Wettbewerben bringt Andrei Măjeri den Durchbruch zu den Repertoiretheatern. 2015 gewinnt er mit Organic das 9G-Programm des Nationaltheaters Bukarest und 2016 mit Exploziv die fünfte Auflage der Regie-Bühnenbildner-Ausschreibung am Nationaltheater Craiova. Es handelt sich hierbei um einen von Elise Wilk geschriebenen Text. Neu interpretiert nach Euripides Die Bakchen, entführt Exploziv das Publikum ins heutige Gymnasiasten-Milieu. Mit seiner Inszenierung erlangt Măjeri Bekanntheit als Regisseur mit einer originellen Vorgehensweise und einer performativen Annäherung an die zeitgenössische Dramatik. Dank gewonnener Preise und positiver Pressestimmen bestätigt Exploziv gleichzeitig Elise Wilk als Dramatikerin des Universums der Jugendlichen. Mittlerweile wurden ihre Stücke, allen voran Die grüne Katze, über nationale Grenzen hinweg inszeniert. Zudem ist Exploziv ein Meilenstein nicht nur für Regisseur und Dramatikerin, sondern auch für die Behauptung einer neuen Künstlergeneration in der rumänischen, vor allem in der unabhängigen, Theaterszene.

 

Nach seinem Debüt in den Repertoiretheatern schafft es Andrei Măjeri in die unabhängige Szene durch die Teilnahme an einem weiteren Wettbewerb. Mit Zersplittert von Alexandra Badea erhält er die Finanzierung der Produktion für die Ausgabe 2018 des Theaterfestivals Bucharest Fringe, eine Koproduktion mit dem unabhängigen Theater Apollo 111. Obwohl soziale Themen nicht unbedingt das Interesse des jungen Regisseurs wecken, liefert ihm Zersplittert die Gelegenheit, die Bewahrungsmechanismen der Menschlichkeit von Personen, die traumatischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, zu beobachten. Ebenso untersucht Agamemnon das Individuum unter dem Einfluss der Konsumgesellschaft, die die einzige Existenzform zu sein scheint. Unabhängig vom Titel seiner Inszenierungen bewahren Măjeris Charaktere die Menschlichkeit in ihren unterschiedlichsten Formen (verirrt, verlassen, missbraucht, gerettet). Trotz Humors und Distanziertheit erfüllt sich das tragische Schicksal der Personen durch die fehlende Wahlmöglichkeit.

 

Die Besetzung seiner Inszenierungen außerhalb Bukarest hat eine Reihe junger Schauspieler hervorgebracht, die über performative Fähigkeiten verfügen, um den vielfältigen Anforderungen des Regisseurs gerecht zu werden. Auch mit Zersplittert stellt dieser eine Verbindung zu freischaffenden Bukarester Schauspielern her, die ebenso in Măjeris nachfolgenden Inszenierungen zu finden sein werden. Die drei Produktionen (Exploziv, Zersplittert und Agamemnon) zeigen eine überwiegende Überlegenheit des zeitgenössischen Textes in der Bühnenkreation von Andrei Măjeri. Die Lust auf neue Dramatik wird jedoch ergänzt durch das Interesse an einer zeitgemäßen Lektüre des antiken Theaters. Ein ausschlaggebender Beweis einer soliden Kultur, die dem klassischen Bild eines Regisseurs entspricht. In der szenischen Umsetzung von klassischen Texten (Bluthochzeit, Meister Manole) lässt Măjeri postmoderne Diskurse aus seiner Leidenschaft für Musik und aus der kreativen Erforschung der spanischen Kultur, zu dessen Anhänger er sich bekennt, einfließen. Hinzu kommt die Unbefangenheit, mit der er sich der Bilder und kultureller Referenzen aus den unterschiedlichsten Bereichen und Genres bedient und diesen dabei eine kontextbezogene Interpretation gibt.

 

Von seinen Inszenierungen verdient Medea's Boys eine besondere Aufmerksamkeit. Es ist vielleicht der komplexeste dramaturgische Ansatz zur Re-Lektüre antiker Texte, hervorragend dramatisiert von Ionuţ Sociu. Auf mehreren erzählerischen Ebenen nähert sich Sociu dem Thema an und bezieht in seinen Text auserwählte Fragmente aus Euripides Medea ein. Die erklärte Sensibilität des Regisseurs gegenüber antiken Tragödien drückt sich in der freien Bearbeitung des Originaltextes aus. Ganz abgesehen vom Vorwand des fünften Jahrestages der Expedition der Argonauten werden in der Inszenierung wichtige Themen der zeitgenössischen Gesellschaft behandelt. Die dramaturgische Stärke der Produktion liegt in Medeas Verwandlung in den Prototyp einer Fremden, einer Barbarin, die trotz der Ehe mit Jason ein Eindringling bleiben wird. In dieser Inszenierung stellt die Medea-Tragödie eine Verbindung zum Zustand der Migranten her, die in Europa als Fremde eingetroffen sind.

 

Die relativ große Anzahl von Inszenierungen in der knappen Zeitspanne von fünf Jahren ist auf professionellem Niveau vollbracht worden. Andrei Măjeri konzentriert sich auf eine intensive Arbeit mit den Schauspielern, gekoppelt mit einer enthemmten Bearbeitung starrer Theaterformen. Der Nachwuchsregisseur schafft es, mit jeder neuen Inszenierung eine aktuelle Version vorzuschlagen und den Zuschauern das tragische Potenzial der heutigen Welt zu offenbaren.

 

aus dem Rumänischen von Irina Wolf

(Mai 2019)

 

WERKLISTE

 

2014:

Die Pandorabüchse von Katalin Thuróczy (Nationaltheater Klausenburg)

 

2015:

Organic von Saviana Stănescu (Nationaltheater Bukarest, im Rahmen des 9G-Programms)

 

Yvonne, die Burgunderprinzessin von Witold Gombrowicz (Theater Aureliu Manea, Turda)

 

2016:

Agamemnon von Rodrigo Garcia (Nationaltheater Klausenburg)

 

Exploziv von Elise Wilk (Nationaltheater Craiova)

 

Tod und Wiedergeburt als Cowboy von Rodrigo Garcia (Nationaltheater Klausenburg)

 

2017:

Bluthochzeit von Garcia Lorca (Nationaltheater Craiova)

 

Zersplittert von Alexandra Badea (Apollo 111, Bukarest)

 

Liebe Frau Professor von Ludmila Razumovskaia (Stadttheater Baia Mare)

 

2018:

Meister Manole von Lucian Blaga (Nationaltheater Klausenburg)

 

Medea's Boys – Dramaturgie von Ionuţ Sociu mit Fragmenten aus Euripides Medea (Apollo 111, Bukarest)

 

Amplexus oder die letzte Umarmung – nach einem selbstgeschriebenen Text (Theater Elvira Godeanu, Târgu Jiu)

 

2019:

Las Meninas von Ernesto Anaya (Ungarisches Staatstheater Klausenburg)