Bobi Pricop: Das neue Gesicht des rumänischen Theaters
Oltiţa Cîntec
Bobi Pricop gab 2011 sein Regiedebüt mit Spiele auf dem Hinterhof von Edna Mazya. Dies war zugleich die Abschlussarbeit seines Zweitstudiums, nachdem er bereits ein Schauspielstudium erfolgreich abgeschlossen hatte. Seine Liebe zum Theater ist zweifellos auf seine Jugend zurückzuführen, als er in seinem Geburtsort Piatra Neamţ in der Theatergruppe des Gymnasiums „Petru Rareş“ und somit auch an den anglophilen Festivals landesweit auf Tournee mitgewirkt hat. Jedoch gehen nicht alle Träume in Erfüllung. So ist Pricop beim ersten Versuch am Aufnahmetest der Bukarester Nationaluniversität der Theater- und Filmkunst „Ion Luca Caragiale“ (UNATC) gescheitert, wurde dennoch dank seiner Hartnäckigkeit an der privaten Universität „Spiru Haret“ zugelassen. Sanda Manu, seine Professorin und zugleich Mentorin, hat ihm die Härte der Schauspielkunst beigebracht. „Ich kann nur dann im Einklang mit mir selbst sein, wenn einige Zweifel offen bleiben. Die Worte meiner Professorin über 'unsere ewige Unzufriedenheit' werde ich nie vergessen, denn das Theater soll dem Zuschauer etwas vermitteln“, so der Künstler. Die Erfahrung bei einem Vorsprechen, an dem weitere 300 Schauspielabsolventen teilnahmen, zeigten Pricop, dass seine Chancen, Teil einer Besetzung zu werden, schlecht standen. So beschloss er, ein Regiestudium zu beginnen und erhielt 2011 sein Diplom von der UNATC. Mit zwei erfolgreich abgeschlossenen Studiengängen tritt Pricop heute als vollkommener Künstler auf.
Persönlich lernte ich ihn aus Anlass einer im Rahmen des Nationalen Theaterfestivals in Bukarest organisierten Diskussionsrunde kennen. Ich schätzte seine offene, ehrliche Art, über seine Zukunftspläne und die Bedeutung der Bühnenkunst zu sprechen. „Durch das Theater kann ich mich ausdrücken. Ich versuche mein Bestes zu geben, und zwar ohne verbittert zu klingen. Die Regiearbeit ist eine andauernde Suche nach neuen Wegen“, sagt Pricop, und das mit selbstverständlicher Natürlichkeit. Während der letzten Jahre habe ich seine Arbeit aufmerksam beobachtet. Er hat bereits einen ganz eigenen Stil entwickelt, sodass er mittlerweile einer der gefragtesten Regisseure in Rumänien ist. Und das in einer Theaterszene, in der es an Absolventen des Studienganges Regie nicht mangelt. Pricops Interesse liegt vor allem in der Umsetzung von zeitgenössischen Stücken und in der Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Edna Mazya, Esteve Soler, Iwan Wyrypaew, Mark Haddon, Mihaela Michailov, Elise Wilk, Mike Bartlett sind nur ein paar Beispiele von Autoren, deren Werke den Regisseur inspiriert haben. Probleme der Pubertierenden, Konfliktsituationen in der Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, sind einige der Themen, die die Aufmerksamkeit des Regisseurs weckten. Seine bisherigen Inszenierungen gelten dramatischen Werken oder Adaptionen, die eine Geschichte mit starken Charakteren zum Vorschein bringen und zeitgenössische Schreibtechniken, wie Fragmentierung, Wiederholung, Minimalismus, Diskontinuität aufweisen.
Am Jugendtheater in Piatra Neamţ hat Pricop Gegen die Liebe (2014) von Esteve Soler auf die Bühne gebracht. Dabei fließen in die Inszenierung auch Fragmente der anderen zwei Teile von Solers Trilogie – Gegen die Demokratie und Gegen den Fortschritt – ein. Die Stücke des katalanischen Autors bestehen aus mehreren aneinandergereihten Szenen. Es sind absurde, surreale, lose zusammenhängende Episoden, mit zwei bis maximal drei Personen, die mit viel Ironie der Entwicklung des Individuums nachgehen. Während die Schauspieler in aussagekräftige Kostüme schlüpfen, ist das Bühnenbild – aus einfachem, weißem Papier oder Plexiglas – schlicht gehalten. Alles in allem eine plastische Darstellung. Die auf der Bühnenrückwand gezeigten Videoprojektionen sind vom Regisseur und der Bühnenbildnerin ausgewählte Collagen. Sie dienen einem mehrfachen Zweck: zur visuellen Begleitung und zugleich als verknüpfende Elemente zwischen den Szenen. Durch solche Regiemittel fügt Pricop dem Text eine weitere semantische Ebene bei. Er schafft es, den Grundsätzen des Autors möglichst treu zu bleiben und gleichzeitig auf subtile Art und Weise das Tragisch-Komische hervorzuheben. Die Produktion weist einen Hauch Science-Fiction auf. Sie porträtiert den gefühllosen Menschen, der nur mit künstlichen Zusatzmitteln die Liebe empfinden kann. Ein Individuum ohne Inhalt, der „Kindererziehungsunterricht“ nimmt, um wieder zu lernen, sich als Elternteil zu verhalten.
Die heutigen Themen und Stücke erfordern moderne Theaterformen. So hat Pricop beim „Luceafărul“ Kinder- und Jugendtheater in Jassy Elise Wilks Die grüne Katze (2015) in einem einzigartigen Silent-Disco-Format auf die Bühne gebracht. Schauspieler und Zuschauer teilen denselben Raum - einen Klub mit dem symbolischen Namen „Am Stadtrand“. Ein paar beleuchtete Formen deuten auf die Konturen einer Stadt hin. Schon am Saaleingang bekommen die Zuschauer Kopfhörer, die es ihnen ermöglichen, dem musikalischen und gesprochenen Teil zu folgen. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktionalität verschwimmen. Das Publikum ist hautnah an den Schauspielern; in einem Bereich, in dem es keine Stühle oder Sitzbänke gibt. Nur ein paar Würfel und einige Nischen des Bühnenbildes bieten sich als Sitzmöglichkeit an. Zum Sitzen kommt es aber kaum, denn die Zuschauer werden von den sechs jungen Schauspielern zum Tanz aufgefordert. Somit nehmen die Betrachter am Geschehen teil, ihre Beziehung zu den Charakteren, zum räumlichen und zeitlichen Rahmen verändert sich grundlegend. Das Publikum wird selbst zu einem Mitwirkenden. Bobi Pricops Silent-Disco-Format ist eine Premiere in der rumänischen Theaterszene und hat ihm die Nominierung der UNITER-Preise für Beste Regie gebracht.
Auch in Mark Haddons Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone (2016), einer Produktion des Nationaltheaters Bukarest, setzt Pricop beeindruckende Multimedia-Elemente und innovative Regiemittel ein. Es kommt zur freien Entfaltung der Energien des gesamten Teams: Adrian Damian zeichnet für das Bühnenbild verantwortlich, Dan Adrian Ionescu und Răzvan Mizdan für den visuellen Teil. Alle Schauspieler verkörpern mehrere Rollen. Auch in dieser Inszenierung hat der Regisseur das Publikum in das Geschehen mit einbezogen. Pricop bringt den Zuschauern die Geschichte auf spielerische Art und Weise näher. Die Form ist originell. Dennoch bleibt die Inszenierung Text-getreu. Ausgewogene Dialoge vermischen sich mit filmischen Einlagen. Die einfallsreiche und homogene Inszenierung weist überraschende Wendungen auf. Das einheitlich entwickelte Konzept kommt der Anforderung nach, die innere Welt von Christopher, dem Jugendlichen mit Asperger-Syndrom, bildlich vorzustellen und die genetische Disposition seines Andersseins zu veranschaulichen. Dazu tragen auch spektakuläre Bühnenelemente bei. Adrian Damian entpuppt sich als Schöpfer von dynamischen Bühnenbildern. Er sorgt für bezaubernde Spiegeleffekte, indem er eine Hintergrundwand erschafft, die hin und wieder durchscheinend, reflektierend und lichtundurchlässig wirkt. Dieselben Regeln der optischen Physik werden auch auf die mobilen Seitenwände angewendet. Das Visuelle unterstreicht das Dramatische und ermöglicht die Übertragung von Emotionen auf die Zuschauer, sodass diese Teil des Mikro-Universums werden. Der Spiegelwürfel, in dem sich Publikum und Schauspieler in ständigem Kontakt miteinander befinden, wird durch Drehbühnen-Effekte verstärkt. Das bringt eine besondere Dynamik in die Inszenierung. Dazu kommt noch Computeranimation. Linien und geometrische Formen stellen einen fahrenden Bus auf einer Straße, einen Gehsteig mit Personen, die Kalligrafie der Mutter, Christophers Gedanken oder the tube, die Londoner U-Bahn, dar. Viel zu oft ist die Computergrafik in Multimedia-Performances überflüssig. In Pricops Inszenierung ist sie jedoch Teil der Ästhetik und rundet den virtuellen Teil einheitlich ab.
In Der Religionslehrer, eine Produktion des Nationaltheaters „Marin Sorescu“ Craiova (2012), vermischen sich Fiktion und Dokumentarisches zu einem attraktiven Experiment. Zusammen mit Mihaela Michailov dokumentiert der Regisseur einen außergewöhnlichen Fall des rumänischen Schulsystems. In einer Work-in-Progress-Arbeit wird die Geschichte einer Schülerin erzählt, die vom Religionslehrer sexuell belästigt worden sein soll. Das Drama wird durch die Zeugenaussage einer Mitschülerin bekräftigt. Die Lehrplaninhalte, das Klima im Klassen- und Lehrerzimmer, das Ansehen der Lehrer, die Familienbeziehungen, der Einfluss der Medien, sind einige der untersuchten Themen. Der Religionslehrer ist eine dynamische und schauspielerisch gut besetzte Inszenierung, in der jeder Darsteller mehrere Charaktere verkörpert. Ohne Partei zu ergreifen, präsentiert die Produktion die vielfachen Probleme des rumänischen Bildungssystems. Auch in dieser komplexen und intelligent umgesetzten Bühnenfassung wird der Zuschauer durch direkte Ansprache emotionell in das Geschehen mit einbezogen. Die klassischen Beziehungen zwischen den Charakteren werden auf das Publikum übertragen, um es zu sensibilisieren. In kurzen Episoden werden die Tatsachen dargelegt. Dokumentarische Untersuchungsmethoden erfassen Schwachstellen des öffentlichen Lebens und fordern die Zuschauer zur Beteiligung auf!
Über Familie, Liebe und Freundschaft geht es auch in Illusionen von Iwan Wyrypajew, eine weitere Produktion des Nationaltheaters „Marin Sorescu“ Craiova (2015). Das Stück erzählt die Geschichte von vier Menschen. Es sind zwei befreundete Paare im hohen Alter, die mit Aussicht auf den bevorstehenden Tod ein „Was-wäre-wenn“-Spiel treiben. Stimmt denn die „offizielle“ Geschichte der zahlreichen Ehe- und Freundschaftsjahre mit der Sichtweise jedes Einzelnen überein? Gibt es eine andere Wahrheit, die nur einigen von ihnen bekannt ist und nun durch Geständnis oder pure Erfindung offenbart wird? Alles ist vor dem Übergang zwischen Leben und Tod erlaubt. Welchen Schaden könnte man wieder gutmachen? Jeder der vier 80-Jährigen hat seine eigene Version über die Chronologie der Liebe und Ehe, die durch storytelling-Technik in mehreren Episoden erzählt wird. Spezifische Regiemittel liefern die Impulse für eine spielerische Entfaltung der Paare Danny-Sandra und Albert-Margaret. Bobi Pricops Inszenierung gewinnt nach und nach an Tempo, könnte jedoch Gefahr laufen, monoton zu wirken. Geschickt steuert der Regisseur dagegen, indem er zu Großaufnahmen der Schauspielergesichter in Echtzeit mit Handkamera wechselt und dadurch den Blick auf die Mimik der Darsteller fokussiert. Auch ein Schattenspiel mit Schablonen oder eine manuell betätigte kleine Drehbühne sorgen für gekonnte Abwechslung. Jedes einzelne Regie-Element ist gut durchdacht und vermittelt ein homogenes Gesamterscheinungsbild. Die ausgeglichene Bühnenvision bestätigt Wyrypajews Aussage, dass „die einzige Form der gegenwärtigen Kommunikation allein die Art zu kommunizieren ist“. Ähnlich wie im Stück erfolgt die Kommunikation sequenziell. Kurze Pausen – die den Texthinweisen entsprechen – markieren die Beziehung zwischen Schauspieler und Publikum. Es ist ein Theater der Dekonstruktion, das mit den traditionellen Formen bricht.
Der Regisseur besitzt eine besondere Gabe, junge Schauspieler aufzufinden und zu fördern. Spiele auf dem Hinterhof, aufgeführt am ACT-Theater Bukarest (2011), ist eine solide strukturierte Produktion mit fünf herausragenden Schauspielabsolventen. Der Text der israelischen Autorin Edna Mazya dokumentiert ein reales Ereignis: die Vergewaltigung eines jungen Mädchens durch vier Teenager. Mit modernen dramaturgischen Schreibmitteln werden die Fakten dargelegt und die Ansichten aller Beteiligten, ohne Urteile zu fällen, erläutert. Das fehlende Budget – die Darsteller tragen einfache Straßenkleidung – wird durch die lebhafte Fantasie des Regisseurs und die Spiellust der Darsteller kompensiert. Unter Pricops gekonnten Regieanweisungen kommt es zur Entfaltung einer breiten Palette an Emotionen seitens der offensichtlich talentierten jungen Schauspieler.
Charaktermerkmale wie Offenheit und Optimismus haben Bobi Pricop bei den Schauspielern beliebt gemacht. Die Proben
unter seiner Leitung verlaufen immer erfreulich: ausgeglichen, ohne Panik, ohne Hysterie. Intuition, Vernunft, Erfahrung sind Faktoren, die seine Position in der neuen Generation von Regisseuren
bestimmen. Im Gegensatz zu anderen jungen Kollegen, die Mangel an Ausdauer zeigten oder hinter ihren Erwartungen blieben, hat Pricop seinen konstanten Karriereweg verfolgt. Inzwischen konnte er
auch im Ausland seine Fähigkeiten unter Beweis stellen, so zum Beispiel im Pariser Théâtre les Déchargeurs mit Alina Nelegas Stück Amalia atmet tief ein (2012) oder für das Edinburgh
Fringe Festival mit Ashes Afar von Andreea Borţun (2015). Viele seiner Inszenierungen wurden zu zahlreichen Theaterfestivals in Rumänien, Moldawien, Frankreich, Polen, Mazedonien,
Deutschland und Italien eingeladen und mit Preisen ausgezeichnet.
„Das Theater kann Fragen aufwerfen, kann zur Selbstanalyse führen, kann den geistigen Bedürfnissen entgegenkommen. Jedoch ist die Entwicklung jedem Individuum selbst überlassen. Das Theater kann
stimulieren, kann eine Änderung beschleunigen, die bereits zu keimen begonnen hat“, sagt der junge Regisseur.
aus dem Rumänischen von Irina Wolf
(September 2016)
Fotogalerie aus "Die grüne Katze" (c) Ozolin Dusa