„In diesen ungewöhnlichen Zeiten können wir wichtige Dinge schaffen“
Interview mit Gianina Cărbunariu
(14.10.2020)
Gianina Cărbunariu ist die im deutschen Sprachraum bekannteste rumänische Regisseurin und seit 2017 Direktorin des Jugendtheaters Piatra Neamţ. In einem Dialog, den wir Mitte September führten, erzählt sie über den Einfluss der Pandemie auf ihre Arbeit und welche alternativen Theaterformen sie zusammen mit ihrem Team entwickelt hat, um mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben.
IW: Im Frühjahr 2020 hätten Sie an der Volksbühne Berlin eine Premiere feiern sollen. Wie hat die Verhängung des Ausnahmezustands wegen der Coronavirus-Pandemie ihre Arbeit beeinflusst?
Cărbunariu: Meine Inszenierung hätte Teil des POSTWEST-Festivals sein sollen, das Künstler und Performances aus zehn Ländern an der Volksbühne Berlin zusammenbringen sollte. Es war ein ehrgeiziges Projekt. Die Vorbereitungen dafür haben schon vor einem Jahr begonnen. Wir hatten drei Treffen in Berlin mit den am Projekt beteiligten Teams, die zu einer inspirierenden Gruppendynamik führten. Der Ausnahmezustand hat uns alle bei Probenbeginn erwischt. Zu dem Zeitpunkt war ich im Jugendtheater Piatra Neamţ mit den Schauspielern in Gespräche über die während der Dokumentation gesammelten Materialien verwickelt. Im Februar hatten wir zwei Wochen lang ganz Rumänien bereist, um Interviews zu führen und zu erforschen, was in der Zementindustrie passiert, wie die Abfälle aus dem Westen nach Rumänien gelangen, welche Auswirkungen auf die Gemeinden, die von der Lagerung oder Verbrennung der Abfälle betroffen sind, beobachtet wurden. Im März mussten wir die Proben unterbrechen, nicht aber unsere Online-Gespräche, weil die Mülltransporte während des Ausnahmezustands nach wie vor stattfanden. Im Gegenteil, Bukarest erreichte unglaubliche Werte des Verschmutzungsgrades, obwohl der Straßenverkehr auf ein Minimum reduziert wurde. Man könnte also sagen, dass der Lockdown leider viel Material zu diesem Thema beigetragen hat. Ende April beschlossen die Koproduzenten und Initiatoren des Projekts, das Festival im Juni in einer digitalen Form abzuhalten. Die Zeit war sehr knapp, um das Konzept und die künstlerischen Mittel zu ändern. Ich bin aber der Meinung, dass mir die Arbeit an dem neuen Projekt geholfen hat, den ersten Schock zu überwinden. So verwandelte die Pandemie die Produktion „POSTWASTE / POSTWEST“ in das visuelle Gedicht „POSTWEST – something digital“. Das ursprüngliche Thema des Giftmüll-Transports vom Westen in den Osten wurde vom Sujet der Beförderung von Arbeitskräften in die entgegengesetzte Richtung, insbesondere von Rumänien nach Großbritannien und Deutschland bereichert. Beide Themen sind seit Jahren bekannt, aber der Ausnahmezustand hat uns geholfen, ein besseres Verständnis zu erlangen, wie das Ganze funktioniert. Ironischerweise wird 2020 das Jahr sein, in dem Zehntausende von Landwirtschaftsarbeitern mit speziellen, während des strengen rumänischen Ausnahmezustands organisierten Flugzeugen nach Deutschland anreisen konnten, während für 100 Künstler aus Osteuropa keine Lösung gefunden wurde, um ihre Inszenierungen während des POSTWEST-Festivals zu zeigen (das Projekt ist auf das nächste Jahr verschoben). So verwandelte sich das Festival in eine Plattform für „digitale Produkte“. Das sagt viel darüber aus, wie sich die Ost-West-Beziehungen in den letzten dreißig Jahren entwickelt haben.
IW: Sie sind seit 2017 Direktorin des Jugendtheaters Piatra Neamţ. Ich vermute, Sie hatten klare Vorstellungen für 2020, für die Theatersaison, für das vom Theater organisierte Herbstfestival. Wie hat der Lockdown diese Pläne verändert?
Cărbunariu: Die Strategie der Theatersaison hängt von den Vorschriften und Empfehlungen ab, die wir für die Sicherheit der Zuschauer, Künstler, Techniker und andere Mitarbeiter des Theaters erhalten haben. Das hat Vorrang. Die Theater sind bis September für das Publikum geschlossen geblieben, daher haben wir Storytelling-Workshops, Lesungen von Kinderstücken und einige interaktive Produktionen online umgelagert. Wir mussten die Proben unterbrechen und die Produktion der beiden Inszenierungen, die zwischen März und Juni Premiere hätten feiern sollen, verschieben, vor allem weil darin viele internationale Künstler mitwirken. Daher haben wir uns entschieden, die Projekte im Juli fortzusetzen. Natürlich mussten wir die Art und Weise, wie bestimmte Aktivitäten durchgeführt werden, unter Berücksichtigung der neuen Maßnahmen überdenken. Es wurden Castings und Dokumentation-Interviews auf der Zoom-Plattform gemacht, damit wir die Herbstprojekte vorbereiten können. Ende August haben wir eine Möglichkeit gefunden, den Zugang zu unserem Publikum unter sicheren Bedingungen wieder aufzunehmen. So ist die Produktion „Fortsetzung folgt. Performativer Leitfaden für den Zuschauer“ entstanden. Diese besteht derzeit aus zwei Walking-Routen. Weitere werden folgen.
Am 11. Oktober wird ein weiteres Wander-Theater Premiere feiern, das unkonventionelle Räume der Stadt erkundet, Momente der jüngsten Vergangenheit der Stadt erforscht und Geschichten verschiedener Gemeinden (insbesondere der jüdischen Gemeinde in Piatra Neamț) auslotet. Die Produktion (Anm. „Future of the Past“) wurde vor einem Jahr in dieser Form vom deutschen Regisseur Clemens Bechtel vorgeschlagen. Erfreulicherweise kann es zu Beginn dieser Saison unter Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen gezeigt werden. In diesem Fall mussten wir die Strategie nicht ändern. Wir wollten sowieso ab Herbst so viel wie möglich aus dem Theater „hinaus ins Freie“. Für Dezember ist die Premiere eines Monodramas geplant, das in einem sogenannten Blind-Date-Programm erstellt wurde, in dem ein Mitarbeiter unseres Theaters einen jungen Regisseur trifft, um mit diesem zusammenzuarbeiten. Wir mussten aber auch einige Programmpunkte ändern. Die Produktion des Gewinnerstückes des zeitgenössischen Wettbewerbs für das junge Publikum, das wir seit drei Jahren organisieren, erforderte zum Beispiel Anpassungen an die neuen Maßnahmen. Sowohl der Regisseur als auch der Dramatiker haben verstanden, dass die Dramaturgie unter diesen Bedingungen noch stärker an Bedeutung gewinnt. Insgesamt mussten wir unsere Strategie andauernd anpassen, darauf achten, was rundherum geschieht, um Plan B, C, D usw. zu erfinden. Wir versuchen jedoch, nicht frustriert zu werden, sondern uns die Freiheit zu nehmen, neue Theaterformen zu entwickeln, um das Publikum auch außerhalb des Saals zu unterhalten. Unabhängig davon, wie sich die Lage nach Januar 2021 entwickeln wird, haben wir daher zusammen mit dem künstlerischen Berater-Team des Theaters beschlossen, Projekte im Frühjahr hauptsächlich für unkonventionelle Räumlichkeiten im Außenbereich vorzubereiten. Wir wollen keine Inszenierungen, die für den Theatersaal gedacht sind, nach Außen versetzen, sondern Räume finden, die die Künstler inspirieren und herausfordern, um auf diese Weise Zuschauer anzusprechen, die vielleicht bislang noch nicht im Theater waren.
Was das internationale Festival betrifft, ist es klar, dass es nicht in der zweiten Septemberhälfte stattfinden kann, da erst Ende August auf Regierungsebene über die Wiedereröffnung der Säle für das Publikum ab dem 1. September diskutiert wurde. Aber wir sind schon am überlegen, was wir tun müssen, um das Festival in der nächsten Saison unter Beibehaltung seines internationalen Segmentes organisieren zu können.
IW: Wie stark hat Ihrer Meinung nach die umfangreiche Online-Ausstrahlung von Theaterproduktionen während des Lockdowns die Art und Weise beeinflusst, wie Theater weiterhin gemacht werden soll?
Cărbunariu: Es ist noch zu früh, dies zu beurteilen. Ich glaube, es wird noch einige Zeiträume geben, in denen Theater nur online angeschaut werden kann. Nachdem ich mir die ersten für das Online-Medium kreierten Produktionen angesehen habe, bin ich der Meinung, dass einige Autoren interessante Ausdrucksmittel entdeckt haben. Es gibt selbstverständlich auch viele gescheiterten Versuche, die völlig uninteressant sind. Das ist absolut normal. In jedem Fall verlangt die Online-Übersiedlung eine Anpassung an eine andere Theaterform. Das braucht Zeit und finanzielle Ressourcen.
IW: Ende August fanden die ersten Vorstellungen von „Fortsetzung folgt. Performativer Leitfaden für den Zuschauer“ statt. Sie haben das Konzept entworfen. Worum geht es? Wie wurde das Werk vom Publikum aufgenommen?
Cărbunariu: Die Idee für „Fortsetzung folgt“ entstand aus meinem Wunsch, mit den Schauspielern, mit denen ich die Proben für POSTWEST begonnen hatte – zu diesen kamen später andere Kollegen dazu –, in einer Art Labor zur Erforschung des Dialogs zwischen Körper und Außenarchitektur des Theaters zu arbeiten, da der Zugang zum Theatersaal unmöglich war. Gleichzeitig dachten wir uns diesen Dialog für Menschen aus, die zufällig die Straße entlang gingen und so zu Zuschauern wurden. Wir wollten ein Umfeld schaffen, um die Verbindung zu unserem Publikum erneut herzustellen. Des Weiteren wollten wir Fragen zum Schicksal der existentiell in Gefahr geratenen darstellenden Kunst aufbringen. „Fortsetzung folgt. Performativer Leitfaden für den Zuschauer“ schlägt einen Dialog zwischen Künstlern, Zuschauern und der Architektur des Theaters vor – von der Fassade über Innenräume, die normalerweise dem Zuschauer verborgen bleiben, bis hin zum Tournee-Bus des Theaters. Die vorgeschlagene Route enthält Auszüge aus Inszenierungen unserer letzten Spielzeiten sowie Objekte aus unserer jüngsten Theatergeschichte (zum Beispiel die Kostüme von „Waisenkind Zhao“, einer berühmten Show von 1995). Das Konzept der Reise gehört mir. Ich glaube, es kommt aus meiner Überzeugung, dass das Theater eine große Fähigkeit hat, die Realität aufzunehmen, darauf zu reagieren und sich zu regenerieren, selbst wenn es jetzt tatsächlich „eine gefährdete Spezies“ ist. Die Produktion beinhaltet auch eine Szene, in der die Zuschauer, falls sie es möchten, ihre Gedanken über die „Abwesenheit“ des Theaterbesuchs sowie die Erfahrung der Wiederbegegnung auf Video aufzeichnen können. Die aufgenommenen Zeugnisse, die ich bisher gesehen habe, sind anschaulich und rührend.
IW: Am 28. August kündigten die rumänischen Behörden an, dass die Theater ab 1. September wieder öffnen dürfen. Wie schnell kann das Jugendtheater Piatra Neamţ die Arbeit wieder aufnehmen? Wie schaut diese Saison aus?
Cărbunariu: Bis auf den Ferienmonat August hat das Jugendtheater nicht aufgehört zu arbeiten. Eigentlich waren wir auch in den Ferien tätig, um die Proben für „Fortsetzung folgt“ und „Future of the Past“ zu planen, um die PCR-Tests der künstlerischen und technischen Teams sicherzustellen und die Organisation des Publikum-Zugangs unter den neuen Sicherheitsmaßnahmen ins Innere des Theaters vorzubereiten. Die Probenplanung erforderte mehr Aufwand als in den Vorjahren. Wenn das Treffen mit dem Publikum nicht nur auf Indoor-Vorstellungen reduziert wird, dann können wir sagen, dass wir damit vor der „Wiedereröffnung der Säle“ begonnen haben. Die derzeitige Lage fordert einen Paradigmenwechsel. Wir müssen von der uns bekannten Situation Abstand nehmen und uns wichtige Fragen über uns als Künstler stellen, über die Relevanz unserer Arbeit in einer Gemeinschaft, die von Krankheit, Depression, Unsicherheit und Angst geplagt ist, vor allem aber über die Polarisierung der Diskurse. Es ist klar, dass wir unabhängig davon, ob wir das möchten, zum „vorherigen“ Zustand nicht mehr zurückkehren können.
IW: Inwieweit ist die Zukunft des Jugendtheaters Piatra Neamţ von der eingeschränkten Belegung des Saals auf nur 50% seiner Kapazität beeinflusst?
Cărbunariu: Der Mindestplan des Jugendtheaters ist vom (staatlichen) Kreisrat subventioniert. Daher haben wir keinen finanziellen Druck wie die unabhängigen oder privaten Theater. In den letzten drei Jahren haben wir viel gespielt, manchmal über dreißig Vorstellungen pro Monat (weil wir auch Matinées für junges Publikum bieten), sodass die Karteneinnahmen nicht zu vernachlässigen waren, obwohl der Kartenpreis bescheiden ist. Der Mangel an Einnahmen in diesem Jahr wird es uns sicherlich unmöglich machen, weitere Aktivitäten zusätzlich zum Mindestplan zu entfalten. Aber die Tatsache, dass wir über staatliche Mittel verfügen, schützt unsere vorrangigen Projekte und Programme. Wir haben einen niedrigen Kartenpreis beibehalten, da wir einem möglichst zahlreichen und vielfältigen Publikum den Zugang zu unseren Produktionen ermöglichen möchten. Zum Beispiel kann im August und September jeder an den fast täglichen Proben im Freien teilnehmen. Außerdem sind die ersten zehn Minuten der Vorstellung „Fortsetzung folgt“ kostenlos. Nach den ersten Tagen haben sich die Menschen daran gewöhnt, sich zum Zeitpunkt unseres Arbeitsbeginns in der Gegend zu versammeln. Sie kommen zu diesem Treffen, bringen ihre Verwandten und Freunde mit.
IW: Als Regisseurin haben Sie sich schon immer für Themen interessiert, die sich auf soziale Problematik beziehen. Welche sind Ihre zukünftigen (internationalen) Pläne? Zu welchen Themen?
Cărbunariu: Derzeit versuche ich zu verstehen, was um mich herum passiert, weil das, was wir weltweit erleben, sehr kompliziert und daher sehr interessant ist. Ich versuche, mit Künstlern und Produzenten aus dem Ausland in Kontakt zu bleiben, weil es wichtig ist, gemeinsam zu überlegen, auch wenn internationale Projekte nicht wie bisher möglich sind. Ich bin davon überzeugt, dass jeder zur Zeit vor Ort arbeiten muss, in der Nähe der Zuschauergemeinschaft sein soll. Gleichzeitig wird aber unsere Reaktion auf die Krise, die wir durchmachen, global und solidarisch sein müssen. Deshalb gibt mir das Gespräch mit Freunden und Kollegen, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, die Kraft voranzukommen, und die Hoffnung, dass wir in diesen ungewöhnlichen Zeiten wichtige Dinge schaffen können.