"Ohne SchauspielerInnen bin ich eine Null"
Interview mit Leta Popescu
(15.03.2021)
Leta Popescu ist eine rumänische Theaterregisseurin, die sowohl an staatlichen Häusern als auch in der unabhängigen Szene inszeniert. Bisher dramatisierte sie zeitgenössische rumänische Prosa (von Florin Lăzărescu, Bogdan Coșa, Dan Coman) sowie zeitgemäße ungarische und rumänische Lyrik. Leta Popescu ist bemüht, sich mit den lokalen Künstlern zusammenzuschließen, unterschiedliche Kunstformen zu vereinen; im Allgemeinen strebt sie an, Zusammenkünfte zu schaffen.
Popescu arbeitet fast immer mit einem/r Dramatiker/In zusammen – bisher unter anderem mit Alexa Băcanu, Elise Wilk und Maria Manolescu Borșa. In den letzten zwei Jahren hat sie das Regieprojekt "Collage" realisiert, das drei Produktionen umfasst: "(In)visible", "(In)credible" und "(In)correct" am Ungarischen Staatstheater Klausenburg, am Nationaltheater Temeswar und am Kreations- und Versuchsreaktor Klausenburg.
Leta Popescu ist Doktorandin. Während der Recherche für ihre Doktorarbeit "Funktionen und Störungen des Repertoiretheaters. Einflüsse auf die Repertoirebildung in Rumänien 2010 – 2020" startete sie in der Zeitschrift Scena.ro die Rubrik "Standpunkte im rumänischen Theater", die aus einem Briefwechsel zwischen Theaterkünstlern besteht.
Irina Wolf: Sie widmen sich hauptsächlich zeitgenössischen Stücken. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Leta Popescu: Kurz gesagt, ich habe Angst vor den Klassikern. Sie überwältigen mich. Ich bevorzuge die zeitgenössischen DramatikerInnen, weil wir die Bewegungen der heutigen Welt gemeinsam aufspüren. Ich lebe in der Gegenwart und blicke in die Zukunft; ich spüre keine Nostalgie und denke, dass sich die Geschichte wiederholt. Ich habe es vorgezogen, Produktionen mit AutorInnen "zusammen zu schreiben", anstatt "umzuschreiben". Aber ich werde mich bald dieser "Umschreibung" der Klassiker widmen, weil ich mich auch in die menschliche Finsternis meiner Vorgänger vertiefen vermag. Derzeit betrachte ich die Klassiker mit Respekt, Faszination und Angst. Sind das nicht die notwendigen Zutaten, um meine Arbeit ausführen zu können? Da kommt noch Freundschaft dazu. Gleichzeitig fällt mir immer wieder Folgendes ein: Kann meine Generation nicht einen Klassiker ins Leben rufen, eine/n DramatikerIn, der/die der Grundregel entspricht? Sind wir nicht dafür verantwortlich, einen Kontext zu schaffen, damit diese/r AutorIn aufkommen kann?
IW: Warum haben Sie sich Zwei-Jahres-Projekte vorgenommen?
Leta Popescu: Rigorosität ist eine große Hilfe. Mein erstes zweijähriges Projekt im Rahmen meiner Masterarbeit war "Von der Prosa zur Inszenierung“. Während dieser Zeitspanne habe ich zeitgenössische rumänische Prosa dramatisiert. Es sind drei Produktionen entstanden. Es schien mir selbstverständlich, auf diese Weise über Projekte nachzudenken. Es wurde zur Gewohnheit, denn so war damals die Zulassung zum Masterstudium in Klausenburg. Das Regieprojekt "Collage" entstand aus dem Wunsch, eine Kohärenz zur Vertiefung in ein Thema herzustellen, aber auch aus der Neigung, einem gewissen Weg zu folgen. "Von der Prosa zur Inszenierung" ist ein "offenes Projekt", das heißt, ich könnte immer wieder zu Dramatisierungen zurückkehren. "Collage" ist ein abgeschlossenes Projekt. Es war eine Trilogie. Ich mache keine In-Produktionen mehr, aber etwas von diesem Collage-Weg ist in mir zurückgeblieben.
IW: Was ist in Ihnen übriggeblieben?
Leta Popescu: Etwas Wesentliches: das Ineinanderfließen der Ebenen. Das fasziniert mich. Die Welt scheint mir auf vielen Ebenen zu funktionieren. Die Gefühle sind gemischt, nichts wird mit einer einzigen Absicht gesagt oder getan: Hinter Güte steht Perversität, hinter Perversität vielleicht Misstrauen, hinter Würde Eitelkeit und so weiter. Das sind Binsenweisheiten. All diese Ebenen und Paradoxa zusammenzustellen – nicht um die Wahrheit zu finden, sondern um eine multiple Semantik der Welt zu schaffen... – das ist einer der Gründe, warum ich diesen Beruf ausübe.
IW: Wie haben Sie das Projekt "Collage" entwickelt? Wie wählen Sie Ihre Themen aus?
Leta Popescu: Nachdem ich Prosa dramatisiert hatte, kam mir der Gedanke, Lyrik als Drama aufzuarbeiten. Darum geht es in "(In)visible", im ersten Teil der Trilogie. Da ich zeitgenössische Texte bevorzuge und das persönliche Leben meine Inszenierungen oft prägt, habe ich mich für Lyrik entschieden; um Ihnen die Wahrheit zu sagen, (auch) weil ich in einen Dichter verliebt war. Nun, dieser Dichter war aber nicht in mich verliebt, und das war faszinierend und schmerzhaft. Damals schien es mir, dass er eine "Verwundbarkeit des Selbstbewusstseins" ausstrahlte. Diesen Gedanken habe ich auf ein Stück Papier notiert in der Nacht, als mir endlich das Thema, das ich dem Ungarischen Staatstheater Klausenburg vorschlagen wollte, "einfiel". Das geschah in einem Hotelzimmer in Temeswar. Ich befand mich dort, um für Ada Lupu (Anm. d. Ü. Ada Lupu-Hausvater ist Direktorin des Nationaltheaters Temeswar) an der Produktion "(In)credible" zu arbeiten. Darin geht es um das Versagen in der Liebe. Einer meiner Freunde sagt: "Bei dir dreht sich alles um die Liebe".
Das Collage-Projekt begann also mit "(In)visible", einer Inszenierung in sieben Folgen über Verwundbarkeit. Ich erinnere mich, dass an dem Abend die Idee vom Sichtbaren und Unsichtbaren in mir erwachte. Gleichzeitig überkam mich der gewaltige Wunsch, das Verborgene zu untersuchen. Alle drei Produktionen verkünden im Titel, dass es um Doppeldeutigkeiten geht: sichtbar-unsichtbar, glaubwürdig-unglaubwürdig, richtig-falsch. Ich beabsichtigte keine Antworten zu geben, nicht der Bescheidenheit wegen, sondern weil ich keine Antworten habe.
IW: Sind Ihre Inszenierungen über Ihr Leben?
Leta Popescu: Nein, meine Inszenierungen sind nicht über mein Leben. Die künstlerische und die persönliche Ebene sind bei vielen Künstlern miteinander verknüpft, das ist nichts Neues. Eigentlich hatte ich immer ein unauffälliges Leben. Ich bin eine konventionelle, manchmal konservative Frau – jedoch nicht im Geist. Ich finde, dass die Gedanken unsere einzigen Freiheitsräume darstellen. In meinem Fall bringt eine Mischung widersprüchlicher Empfindungen in meiner Denkweise die Projekte und Inszenierungen hervor.
IW: Abgesehen von Empfindungen, was sind Ihre Inspirationsquellen? Welche Musik hören Sie, welche Bücher lesen Sie, welche Maler, Schriftsteller, künstlerischen Strömungen inspirieren Sie und warum?
Leta Popescu: Paradoxa inspirieren mich. Beträchtlich. Die Absurdität der Realität. Die Qual, das Verborgene, das Fiktive. Ich bin eine aufmerksame Beobachterin – das ist wahrscheinlich meine Hauptinspirationsquelle. Bücher und Filme ergänzen mich; ich weiß nicht, ob sie mich "inspirieren". Das Leben inspiriert mich. Die anderen Künste geben mir Mut, mich inspirieren zu lassen, wenn Sie so wollen. Ich höre nur sehr selten Musik. Ich habe es versucht, kann es aber nicht. Ich bevorzuge die Stille, auch wenn ich durchgehend sieben Stunden lang von Bukarest nach Klausenburg Auto fahren muss. Wenn ich Musik höre, dann Klavier ohne Unterbrechung. Es ist ein Instrument, das auf möglichst konkrete und bedrückende Weise an meiner Seele hängen bleibt.
Hingegen verbindet mich eine besondere Beziehung mit der bildenden Kunst. Diese inspiriert mich zweifellos. Von ihr ausgehend gebe ich mir selbst Hausaufgaben oder nehme Bilder mit. Die bildende Kunst ist für mich Arbeitsmaterial. Den Kubismus zum Beispiel konnte ich nicht so sehr lieb gewinnen wie den deutschen Expressionismus. Trotzdem hat der Kubismus meine Denkweise über die Bühne stark beeinflusst. Ich habe sogar versucht, die Prinzipien dieser Kunstströmung in meinen Proben zu übertragen. Was bedeutet zum Beispiel Mehrfachperspektive? Das kann sich in der Dramaturgie, im Agieren des Schauspielers, in der Beziehung zum Publikum und in der Bühnenumsetzung widerspiegeln. Bot ein kubistisches Gemälde eine Erforschungsmöglichkeit nach echter Malerei, was würde dann "reines Theater" heute bedeuten? Wennt man bei der Betrachtung eines kubistischen Werks den Genuss einer Entdeckung fühlt, könnte dann nicht auch die Regiekunst zum Publikumsgenuss jenseits der Aufführung oder der Geschichte beitragen?
IW: Bleiben wir bei der bildenden Kunst. Sie haben auch ein Regielabor zum Thema "Umsetzung der Realität durch szenischen Kubismus in Werken mit kleiner Besetzung für ein beschränktes Publikum" geleitet. Woraus bestand dieses Labor? Wer waren die Teilnehmer?
Leta Popescu: Das Labor fand mit den SchauspielerInnen, mit denen ich sehr gut zusammenarbeite statt: mit Emőke Pál, einer ungarischen Schauspielerin (wir sind hundertprozentig kompatibel), mit Doru Taloș, Oana Mardare und Alexandra Caras (mit ihnen arbeite ich seit sieben Jahren zusammen; mit Alexandra sogar seit zehn Jahren, denn wir haben gemeinsam studiert). Es gibt Menschen, die mir vertrauen. Das ist alles, was ich von den SchauspielerInnen brauche. Wenn sie mir misstrauen, ist der Spaß vorbei. In Bukarest habe ich mit George Albert Costea vor ungefähr sechs Jahren "Open", eine Ein-Mann-Performance, gemacht. Auch mit ihm stimmt die künstlerische und intellektuelle Chemie. Neuerlich versuche ich mich Denisa Nicolae anzunähern. Sie leitet die Theatergruppe Vanner Collective und hat mich eingeladen, einen Text für die Bühne umzusetzen. Während des Labors gab es einen regen Ideenaustausch dazu.
Kurz gesagt, wir haben Bewegungsmodule und Bilder erforscht, die zu mehreren Geschichten dazupassen. Die Schlüsselwörter waren "multiple Semantik", "multiple Perspektive". Wir haben Texte über Glück geschrieben. Das hat sich während der Pandemiekrise abgespielt. Wir wollten unbedingt an Kontrasten arbeiten und versuchten nach kubistischen Prinzipien zu inszenieren. Wir haben es sogar ausprobiert, "Hamlet" auf diese Weise zu machen – das sprach mich an. Es gab keine Vertiefung in die Materie, nur Tests im Kreations- und Versuchsreaktor Klausenburg. Das ist eine Spielstätte, die die Möglichkeit für solche Experimente bietet, und das ist großartig.
IW: Wie setzen Sie "Empfindungen bzw. Ideen" auf der Bühne um?
Leta Popescu: Ich werde zurückgreifen und etwas über SchauspielerInnen sagen. Der Bühnenbildner möge mir verzeihen, aber die SchauspielerInnen sind die kreativsten Hauptpartner des Regisseurs. Nicht weil das Bühnenbild unwichtig wäre, sondern weil es nicht lebendig ist. Letztendlich ist das Theater abhängig von den SchauspielerInnen. Das Universum des Regisseurs oder, besser gesagt, mein Universum – wir wollen nicht verallgemeinern – ist der Ausgangspunkt einer Arbeit. Ich bin nicht die offenste Person für Debatten, ich frage die SchauspielerInnen nicht, wie sie die Umsetzung durchführen wollen usw. Ich glaube sehr stark an die Regiekunst, führe Regiebücher, habe Regeln, Suchstrategien, Theorien. Trotzdem bin ich ohne SchauspielerInnen eine Null. Im Grunde beschränkt sich alles darauf, die SchauspielerInnen zu erobern. Zumindest um die Atmosphäre, die ich mir für eine Inszenierung wünsche, zu erreichen.
IW: 2020 war ein äußerst schwieriges Jahr für alle, vor allem aber für die Kulturszene. Wie hat die durch die Pandemie verursachte Krise das rumänische Theater Ihrer Meinung nach beeinflusst? Wie hat Sie diese außergewöhnliche Situation verändert, als Künstlerin und als Mensch?
Leta Popescu: Es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen, was sich geändert hat. Wir werden das viel später zu spüren bekommen. Die Pandemie ist noch immer da. Vielleicht werden wir in drei Jahren feststellen können, wie sie unseren Werdegang beeinflusst hat. Aus meiner Sicht ist derzeit der Konservierungsinstinkt sehr prägnant. Von diesem ausgehend möchte ich Theater machen, um die klassische, analoge, Form dieser Kunst zu verteidigen. Es war sehr schwierig für mich, für das Online-Medium zu arbeiten. Dafür habe ich "Eingesperrt" von Maria Manolescu Borșa bei Replika (Anm. d. Ü. Replika ist eine Spielstätte der unabhängigen Szene in Bukarest) inszeniert. Es ist eine gefilmte Performance, die auf der Maske in der Theaterkunst basiert.
IW: Was ist Ihr nächstes Projekt?
Leta Popescu: Ich arbeite gerade an einer komplexen Inszenierung. Sie heißt "Raus aus der Sonne". Es ist die Geschichte des Kreations- und Versuchsreaktors Klausenburg, der den Regisseur Alexandru Dabija eingeladen hatte, etwas für die Bühne umzusetzen. Aus verschiedenen Gründen konnte Dabija nicht mehr den Auftrag entgegennehmen. Die Dramatikerin Alexa Băcanu hat die Geschichte dieses gescheiterten Treffens niedergeschrieben. In diese Erzählung baue ich weitere Ebenen ein, denn, wie gesagt, es ist mir eine Freude, unterschiedliche Ebenen ineinander übergehen zu lassen. Derzeit stecke ich in den Proben und möchte keine weiteren Details verraten. Ich kann es aber kaum erwarten, von Ihnen im Sommer wieder zu hören!
(aus dem Rumänischen von Irina Wolf)
(siehe auch Aurora-Magazin.at vom
08.04.2021)