(c) Lex Karelly
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Ist das Leben Gottes Geschenk?

(12. Februar 2022)

 

Er ist 78 Jahre alt, hat zwei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. Körperlich und geistig ist er kerngesund. Trotzdem möchte er – Gärtner ist sein Name – nicht mehr leben. Lebensfreude und -mut sind seit dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren verschwunden. Es war kein sanfter Tod: Sie ist an einem Gehirntumor im Spital gestorben. Aus diesem Anlass beschloss Herr Gärtner, dass er sich „in Würde jetzt“ verabschieden möchte, anstatt „später an Schläuchen zu hängen“. Obwohl ihn seine Kinder von seiner Entscheidung abbringen wollten, haben sie es nicht geschafft, ihren Vater umzustimmen. Da Herr Gärtner in Österreich lebt, wendet er sich an die Ethikkommission. Doch sein Anliegen wird abgelehnt. Mit 1. Januar 2022 trat zwar das „Sterbeverfügungsgesetz“ in Kraft, allerdings nur für schwerkranke und unheilbar kranke Personen.

Diesem sensiblen Thema des assistierten Suizids nimmt sich Ferdinand von Schirach in seinem neuen Theaterstück GOTT an. Der prominente deutsche Strafverteidiger und bekannter Autor von Bestsellern lässt Herrn Gärtners konkreten Fall von Expert*innen aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen: moralisch-ethisch, medizinisch, rechtlich und religiös.

Am Schauspielhaus Graz adaptieren Regisseur Bernd Mottl und Dramaturg Daniel Grünauer von Schirachs Stück, indem sie die Rechtslage in Österreich einbeziehen. Einer nach dem anderen bringen die Hausärztin (Steffi Krautz), eine Juristin (Birte Leest), ein Mediziner (Fredrik Jan Hofmann) und ein Theologe (Clemens Maria Riegler) ihre Argumente vor. Befragt werden sie abwechselnd von dem Mitglied einer fiktiven Ethikkommission (Evamaria Salcher) und von Herrn Gärtners Rechtsanwalt. Moderiert wird das Ganze von der Vorsitzenden der Kommission (Susanne Konstanze Weber).

Akribisch recherchierte Argumente zur Situation in Ländern mit liberalen Sterbehilferegelungen wie den Benelux-Staaten, der Schweiz, dem US-Bundesstaat Oregon, ja sogar weit zurückreichend bis zum Römischen Reich werden ebenfalls berücksichtigt. Beispielhaft sind auch die Daten der Statistik Austria zu Todesursachen und Suizidmethoden in Österreich, die auf einer großen Leinwand gezeigt werden. Im Allgemeinen spielt die Bildfläche auf der schlicht in weiß-türkis gehaltenen Bühne (Friedrich Eggert) – das Ganze spielt sich vor dem Vorhang ab – eine nicht unwichtige Rolle: Jede/r der Expert*innen werden darauf durch Kurzfilme präsentiert und die besorgten Kinder per Video eingespielt (Fotos & Video: Jörn Hartmann).

Langfristige Veränderungen in der Gesellschaft werden der Selbstbestimmung des Menschen gegenübergestellt. Betrachtet man nur die Daten, Zahlen und Fakten, bilden diese eine eher trockene Angelegenheit. Gekonnt umgeht Regisseur Mottl diese Gefahr und weiß auch Emotionen zu wecken, sei es mit dem zeitweise prozessähnlichen Ablauf der Expert*innenbefragung, mit einer emotionalen Rede von Herrn Gärtner – beeindruckend Gerhard Balluch – oder mit dem ironischen, leicht humorvollen Ton seines Rechtsanwalts – großartig Mathias Lodd.

Wie auch im Fall von Ferdinand von Schirachs erstem Theaterstück TERROR (2015) bildet die Publikumsbeteiligung den spannendsten Teil des Konstruktes. Denn am Ende werden die Zuschauer gebeten, über eine brisante Frage zu urteilen: „Halten Sie es für richtig, dass Herr Gärtner das tödliche Medikament bekommt, um Selbstmord zu verüben“? Im Schauspielhaus Graz wurden dafür noch am Eingang Stimmgeräte verteilt. Es gab zwei Abstimmungsphasen. Zunächst sollten die Zuschauer angeben, ob sie grundsätzlich für oder gegen Sterbehilfe sind: Bei der Premiere im bis zum dritten Rang gefüllten Haus sprachen sich 77 Prozent dafür aus. Umso auffallender das Ergebnis nach der umfangreichen Befragung der Expert*innen: Nurmehr 57 Prozent stimmten für Herrn Gärtners assistierten Suizid.

In seinem „Abschlussplädoyer“ lässt Herr Gärtners Rechtsanwalt einen bedeutsamen Satz fallen: „Wem gehört unser Leben?“ Dass dies zum Nachdenken und zu Diskussionen führt, wurde nach dem tosenden Schlussapplaus sichtbar, als etliche Zuschauergruppen noch in ihren Sitzen tief involviert in Gesprächen verweilten. Eine äußerst gelungene Inszenierung! Und ein guter Beweis dafür, dass sich das Theater als demokratischer Dialog- und Erfahrungsort wie kaum eine andere Kunstform eignet, Debatten um Sterbehilfe so breit wie möglich anzulegen und in die Gesellschaft hinauszutragen. Die Reise von GOTT geht weiter. Es folgen Bühnenumsetzungen in Wien, Linz, Salzburg, Innsbruck und Klagenfurt. Inzwischen kann man in die Abstimmungsergebnisse in Theatern des gesamten deutschsprachigen Raums auf der Webseite „gott.theater“ Einsicht nehmen.

 

(siehe auch Aurora-Magazin.at vom 01.05.2022)


(c) Johanna Lamprecht
(c) Johanna Lamprecht

Kafkas Angst: eine Entführung in die hintersten Winkel des Theaters

(19. Juni 2021)

 

Es ist groß. Es ist ein großes Wesen, das allein in einem weitläufigen Bau unter der Erde lebt und sich vor jeglichen Gefahren, die von der Außenwelt zu drohen scheinen, schützen will. Zu diesem Zweck hat es etliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Kontrollrituale tun ihr Übriges, das exzessive Bedürfnis des Wesens nach Sicherheit zu befriedigen. Doch alles ist vergebens. Das Geschöpf hat kein Vertrauen in seine Maßnahmen, wittert hinter jeder Unregelmäßigkeit des Alltags einen potenziellen Angriff und spielt auch in Gedanken mehrere (un)mögliche Gefährdungen durch. Irgendwann vernimmt es ein Geräusch, ein Zischen, dessen Herkunft es sich nicht erklären kann. Und so verfällt es in Paranoia.

Davon handelt Kafkas letzter Text. Die Erzählung Der Bau wurde im Winter 1923 geschrieben, als der Autor bereits an fortgeschrittener Lungentuberkulose litt. Als virtuelle Vorstellung mittels VR-Brille bringt nun das Schauspielhaus Graz die Inszenierung dieses Werkes den Zuschauer*Innen ins eigene Heim. Nach „Judas“, einem Monolog von Lot Vekemans, gefilmt in einer Kirche, und „Krasnojarsk“, eine düstere Endzeitversion von Johan Harstad, gedreht unter anderem am Neusiedler See im Burgenland, können nun die Zuschauer*Innen in das Grazer Theatergebäude eintauchen.

Die als Kafka-Spezialistin geltende, in St. Petersburg geborene Regisseurin Elena Bakirova, hat sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie lädt auf eine Reise durch etliche Räumlichkeiten des Theaters ein. Im Stiegenhaus, auf der Lichtbrücke und in der Unterbühne, im Requisiten- und im Kühlraum sowie auf der Bühne selbst (dem sogenannte „Burgplatz“ aus Kafkas Erzählung) – überall kann man, ausgestattet mit der vom Schauspielhaus gelieferten VR-Brille und einem Controller sowie einem persönlichen Kopfhörer-Set, bequem vom eigenen Drehsessel in die Kulissen der Theaterwelt hineinschnuppern. Umwerfend ist die Aussicht von weit oberhalb der Bühne, fantastisch der Blick unter die Drehbühne (Bildgestaltung/Schnitt: Markus Zizenbacher). Ein sagenhaftes Erlebnis! „Das Theatergebäude an sich ist wie Kafkas Topografie – alle Wege führen zur Bühne und alle Räume sind miteinander verknüpft“, begründet Bakirova ihre Wahl. Mit viel Liebe zum Detail sind die Zimmer ausgestattet. Ein Regenschirm, ein Schlitten, mehrere Lampen und leere Bilderrahmen, Schlittschuhe, ein Bär, ein Videoprojektor, diverse Masken – und noch so vieles mehr hat das Wesen in seinem Bau angehäuft.

Auf die Reise durch die labyrinthischen Gänge führt der Schauspieler Florian Köhler. Unermüdlich bewegt er sich von einem Raum in den anderen, rollend, kriechend, springend, manchmal laufend, ein anderes Mal behutsam, prüfend, misstrauisch. Sein Blick verrät aber noch mehr. Eindrucksvoll schafft es Köhler, in nur vierzig Minuten eine Palette von Gefühlszuständen glaubwürdig zu vermitteln. „Das Schönste an meinem Bau ist seine Stille“, sagt er zu Beginn. Scheint er sich am Anfang sicher, ja sogar glücklich zu fühlen, rastet er mit der Zeit aus. Auf einem alten Kassettenrekorder nimmt er Geräusche auf. Ab und zu schlägt er auf die Rohre, um das Zischen, das er vermeint zu vernehmen, zu lokalisieren.

Gelegentlich bleibt er stehen und schaut direkt in die Kamera. Einmal streckt er sogar die Hand aus nach dem „unsichtbaren Feind“, vor dessen Einbruch er solche Angst hat. Als Zuschauender bekommt man ein mulmiges Gefühl, dann steckt man noch mehr mitten im Geschehen. Nach und nach verliert der Protagonist den Verstand: Auf einem Fahrrad fährt er wild auf der Unterbühne im Kreis. Dabei wird das Tempo durch die sich in die Gegenrichtung bewegende Drehbühne verstärkt – nur etwas für Schwindelfreie, wobei man im Notfall die VR-Brille kurzfristig entfernen kann. Und irgendwann nimmt die Paranoia ihren Lauf: Umgeben von Kinderspielsachen erzeugt der Protagonist einen betäubenden Lärm. Währenddessen putzt er sich die Zähne mit zwei Zahnbürsten gleichzeitig.

Elena Bakirovas Inszenierung entpuppt sich als eine relevante Gefühlserkundung nach der pandemiebedingten sozialen Isolation. Die Virtual-Reality-Produktion des Schauspielhauses Graz überzeugt durch Tempo, starke Bilder und eine grandiose schauspielerische Leistung.

 

(siehe auch Aurora-Magazin.at vom 26.08.2021)


(c) Lex Karelly
(c) Lex Karelly

Wörterschutzgebiete für die Mächtigen bauen

(08. April 2021)

 

Seit Beginn der Corona-Krise vor einem Jahr haben wir mit drastischen Einschränkungen der Reisefreiheit zu kämpfen. Die Meinungsfreiheit ist (noch) unangetastet. Wie wäre es aber, wenn auch die vorhandenen Sprachmöglichkeiten einer Begrenzung unterzogen werden? Diese dystopische Zukunft zeigt Sam Steiner in seinem preisgekrönten Werk „Zitronen Zitronen Zitronen“, das Ende März die deutschsprachige Erstaufführung am Schauspielhaus Graz in einer Online-Version feierte. 

Das 2015 geschriebene Stück um die Reduktion der Sprache auf 140 Wörter scheint aktueller denn je. Der britische Autor bringt brisante gesellschaftspolitische Fragen wie Demokratie und Klassenteilung auf. Doch das Politische findet nur angedeutet statt, denn der Diskurs um die Redefreiheit wird durch die Beziehung zweier junger Menschen dargeboten. Bernadette und Olivia sind ein Liebespaar (im englischen Original waren es Bernadette und Oliver). Sie haben sich auf einem Tierfriedhof kennengelernt. Noch ist es unsicher, ob das umstrittene Gesetz der Kommunikationseinschränkung durchkommt und schon hat die Beziehung der beiden sehr stark zu leiden. Olivia (Maximiliane Haß) ist eine temperamentvolle, revolutionäre Musikerin, die an Demonstrationen gegen die zukünftige Spracheinschränkung teilnimmt. Bernadette (Katrija Lehmann) ist zurückhaltender; sie ist Juristin. „Das Wort ist die Waffe der Mittelklasse“, behauptet Olivia und erzeugt mit diesem Satz nur Unmut bei ihrer Partnerin. Polarisierung und Teilung der Gesellschaft. Klingt das bekannt? 

Die speziell für das Online-Medium konzipierte Produktion schafft es, Steiners dystopische Zukunftsvision glaubhaft rüberzubringen. Geschickt wechselt Regisseurin Anne Mulleners die Schauplätze zwischen Theaterraum und Orten im Freien. Eine Stunde lang werden die anschaulichen Szenenwechsel farblich raffiniert vermittelt (Kamera & Schnitt: Thomas Achitz) und musikalisch optimal unterstützt (Musik: Mihai Codrea und Sânziana Dobrovicescu). „Vierunddreißig“ – „Einundzwanzig“ – so lautet der Anfangsdialog. Was jedoch wie ein Spiel zu beginnen scheint, ein bloßes Rätsel, das es zu lösen gilt, führt zunehmend in die bedrückende Welt einer Maschinerie, die den Einzelnen nur in seinen Entfremdungen und Auflösungen hervorbringt und die Welt, in der wir leben, als eine labyrinthische Ortlosigkeit kennzeichnet, der niemand entkommen kann und die so zum Zeichen eines Desasters wird. Nur eines überlebt: die Liebe. Das Endbild des Botanischen Gartens der Universität Graz mit seinen Gewächshäusern und das darin planlos herumirrende Paar bleiben in wunderschöner Erinnerung im Hinblick auf eine hoffnungsvolle Zukunft. Zu dieser gelungenen filmischen Version soll es auch eine Live-Produktion geben, sobald es Corona erlauben wird. Bis dahin ist „Zitronen Zitronen Zitronen“ im digitalen Repertoire des Schauspielhauses Graz noch bis 29. April zu sehen. 

(https://schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com/play-detail/zitronen-zitronen-zitronen)


(c) Johanna Lamprecht
(c) Johanna Lamprecht

Mittels VR-Brille in die Apokalypse

(14. Februar 2021)

 

„Krasnojarsk: Eine Endzeitreise in 360°“ – so der Titel der neuesten Premiere des Schauspielhauses Graz. Dass diese derzeit im Theatersaal nicht stattfinden kann, ist offensichtlich, sind die Theater wegen der Corona-Pandemie bis auf Weiteres geschlossen. Ein Online-Streaming-Event ist aber auch nicht der Fall. Wo ist dann die Produktion zu sehen? In den eigenen vier Wänden, es handelt sich um eine Vorstellung mittels VR (Virtual-Reality)-Brille. Damit entwickelt das Schauspielhaus Graz ein Format weiter, das es in der vergangenen Spielzeit mit der VR-Produktion „Judas (360°)“ im Foyer des Hauses mit ebensolchen Brillen erlebbar gemacht hat. Diesmal kommt das Theater zum Zuschauer nach Hause. Und das mit Luxus-Service! Nach dem Ticketerwerb wird die bestellte VR-Brille mittels Fahrradkurier geliefert, wo die auf der Brille gespeicherte 360°-Aufnahme abgespielt werden kann. Eine Bedienungsanleitung wird im Paket mitgeliefert.

Nicht nur die Organisation ist erstklassig, vor allem das Thema ist für die heutige außergewöhnliche Zeit passend ausgewählt. Anhand des Theaterstücks „Krasnojarsk“ des norwegischen Autors Johan Harstad werden Vereinzelung und Isolation, Liebe und Enttäuschung, Gewalt und Zärtlichkeit untersucht. Eine Naturkatastrophe soll ausschlaggebend dafür sein, dass nahezu die gesamte Erdoberfläche vernichtet ist. In dieser dystopischen Zukunftswelt sucht ein Anthropologe (Nico Link) Spuren der Menschheit, und das ausgerechnet in der Region Krasjonarsk, im fernen Sibirien. Eines Tages trifft er auf eine junge Frau (Katrija Lehmann) und die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung.

Gedreht wurde unter anderem am Neusiedler See im Burgenland – das dem Krasnojarsker Stausee nahekommt, in der steirischen Weizklamm und im Freilichtmuseum Vorau. Damit ist Bildgestalter Markus Zizenbacher und Ausstatterin Tanja Kramberger eine beachtenswerte Umsetzung der sibirischen Steppenlandschaft gelungen. Regisseur Tom Feichtinger setzt auf nachhaltige Bilder und auf echte Spannung, vor allem aber auf erstklassige Schauspieler. Souverän vermischen sich verschiedene Zeitebenen. Da ist zum Beispiel das von Lustlosigkeit geprägte Abendessen eines Paares in einer luxuriös ausgestatteten Wohnung unseres Jahrhunderts. Die von Kommunikationsmangel geprägte Beziehung führt zu einer Flucht des Mannes ins Mittelalter. Da scheint das Leben noch in Ordnung zu sein. Mittels beeindruckenden Bildüberblendungen werden solch überraschende Effekte erzeugt.

Auf biblische Weise überschwemmt gegen Ende eine Flut den Saal des Grazer Schauspielhauses. Die 360-Grad-Technik, in der sich der Zuschauer die Perspektive selbst wählen kann, macht die düstere Endzeitreise von Johan Harstad dennoch ertragbar. Visuell kühn, zugleich poetisch und verstörend, aber auch absurd komisch. Als erstes österreichisches Theater bietet das Schauspielhaus Graz dem Publikum ein einmaliges Erlebnis im eigenen Drehsessel. Mit diesem Format ist es dem Team eindrucksvoll gelungen aufzuzeigen, dass neue Wege jenseits der klassischen Theateraufführung möglich sind.

 

(siehe auch Aurora-Magazin.at vom 21.03.2021)