(c) Marco Caselli Nirmal
(c) Marco Caselli Nirmal

Don Quijote in Flammen setzen

Irina Wolf

(26.07.2023)

 

Als wichtiges Zentrum für den Kulturtourismus in Italien ist Ravenna bekannt für seine einzigartigen Mosaiken, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Doch ich verbinde das Städtchen im Osten der italienischen Provinz Emilia-Romagna mit unvergesslichen Momenten und besonderen Menschen. Ermanna Montanari und Marco Martinelli, die zwei Mitbegründer und künstlerischen Leiter des Teatro delle Albe/Ravenna Teatro schaffen es immer wieder, sensationelle Theaterprojekte ins Leben zu rufen. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass Hunderte von Bürgern der Stadt, ja sogar experimentierfreudige Theaterliebhaber aus anderen Regionen Italiens, an dem Unterfangen der beiden charismatischen Künstler mitwirken. 

(c) Marco Casalli Nirmal
(c) Marco Casalli Nirmal

Langfristige, gemeinschaftliche Arbeit

Chiamata Pubblica (öffentlicher Aufruf / public call) heißt die Einladung des Ravenna Teatro, die allen gilt, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Sprache oder Ausbildung. Unter der Anleitung von Martinelli und Montanari werden die Mitwirkenden im Rahmen eines großen Labors, dem sogenannten Cantiere (Baustelle), mit unterschiedlichen Aufgaben betraut. Gesang, Tanz, Chorrezitation, Bühnenbild, Kostüme. Für all dies setzen sich begeisterte Menschengruppen mit Hingabe ein. Sie bilden das, was Martinelli als „Chöre“ bezeichnet, homogene Gemeinschaften. Die Energie, die dabei freigesetzt wird, ist erstaunlich und ansteckend zugleich.

So ist es nicht verwunderlich, dass genau diese Laiendarsteller eine Fortsetzung des Dante-Projektes, das von 2017 bis 2022 stattfand und sich mit der Göttlichen Komödie befasste, anstrebten. „Und was machen wir jetzt? Wie geht es weiter?“, fragten die Bürger Ravennas begierig. Ermanna Montanari und Marco Martinelli kamen dem Wunsch ihrer „Mitschauspieler“ nach und starteten in diesem Jahr ein neues dreijähriges Projekt, das Cantiere Malagola, dessen erster Teil im Rahmen des Ravenna Festivals 2023 gezeigt wurde und in dessen Mittelpunkt ein nicht weniger berühmtes Werk der Weltliteratur steht: Don Quijote von Miguel Cervantes. Wer kennt nicht den abenteuerlichen „Ritter von der traurigen Gestalt“, der in Begleitung seines treuen Knappen Sancho Panza Abenteuer besteht, wo es nichts zu bestehen gibt? Opfer seiner Literatursucht und seiner übersteigerten Lesefreude an Ritterromanen, hält Don Quijote Windmühlen für Giganten, Hammelherden für feindliche Armeen, Weinschläuche für Riesen, Herbergen für Schlösser und ein einfaches Bauernmädchen für seine vornehme Herrin.

(c) Marco Casalli Nirmal
(c) Marco Casalli Nirmal

Vom Palast zum Wirtshaus

Don Quijote in Flammen setzen (Don Chisciotte ad ardere) – so der Titel des neuen Werkes von Montanari und Martinelli. „Denn alles, was wir erschaffen, ähnelt dem Roman, der zwischen sprachlichen Mitteln (Farce, Schelmenroman, Romanzen, Lyrik) ständig hin und her springt“, erklärt Ermanna Montanari die Wahl des überraschenden Titels. „Das hat mit Asche zu tun, die verpufft und nicht aufzufangen ist, als ob alles einem kontinuierlichen, ewigen und nahezu unfehlbaren Feuer ausgesetzt wäre“.

So schön Cervantes' Roman auch zu lesen sein mag, ist es ein äußerst schwieriges Unterfangen die mehr als 1000 Seiten auf die Bühne zu bringen. Umso lobenswerter ist die Initiative der beiden Künstler. Schon von Anfang an spielen Montanari und Martinelli mit dem zentralen Thema des Schriftwerks, und zwar mit der Frage, was in unserer Umwelt Wirklichkeit oder Traum ist, Realität oder Ideal. Da ist als allererstes der Veranstaltungsort: der Palazzo Malagola – ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert in der Via di Roma 118 im Zentrum Ravennas, dessen Name sich auf eine wohlhabende bürgerliche Familie aus Modena bezieht, der der Palast gehörte bis er in den Besitz der Stadt überging. Von Außen unauffällig, beherbergt das Gebäude seit 2021 ein internationales Zentrum für Gesangstudien. Nur eine Tafel neben dem Eingangstor gibt Auskunft über die Gesangschule, geleitet von Ermanna Montanari und Enrico Pitozzi, einem Wissenschaftler und Professor an der Universität Alma Mater Studiorum in Bologna.

(c) Marco Casalli Nirmal
(c) Marco Casalli Nirmal

Schon beim Betreten des Gebäudes fällt mir die stimmige, stilvolle und einzigartige Einrichtung auf. In der Eingangshalle sitzen mehrere Frauen an Nähmaschinen und nähen... Broschüren. Auf den Papierblättern sind ihre Träume aufgezeichnet, die ganz persönlichen Träume dieser Frauen Ravennas, die an dem Projekt teilnehmen. Es handelt sich um kleine Kunsthandwerke, die vom „Chor der Träumerinnen“ letztendlich an jeden Zuschauer verschenkt werden. Damit ausgerüstet, führt der Weg durch den „verzauberten Palast“. In kleinen Gruppen von sieben (aus den insgesamt 50 Zuschauern) bewegen wir uns lautlos durch die verschiedenen Räume und Etagen.

Was für eine Abfolge beeindruckender Bilder! Surreale Szenen, mit viel Liebe zum Detail von Montanari zusammen mit den Bühnenbildnerinnen Elisa Gelmi, Ludovica Diomedi und Matilde Grossi entworfen. Alle Sinne werden angesprochen. Da ist zuerst einmal der penetrante Geruch des Weizenfeldes, das wir im ersten Raum durchqueren. Eine Familie, die am Tisch sitzt, isst Suppe... mit Messern; daneben stolzieren drei Hühner in einem Hühnerstall herum. Auf dem Dachboden liegt eine Meerjungfrau am Boden; in einem anderen Raum schneidet sich eine nackte Frau die Haare. Ob auf Treppen oder in den Zimmern, Stefano Riccis vielsagende Zeichnungen in Schwarz-Weiß schmücken die Wände. Träume und Albträume wechseln sich ab in diesem Labyrinth und verwandeln unsere Welt in ein intensives Erlebnis, in dem Lichter (von Luca Pagliano und Marcello Maggiori) und Klänge (von Marco Olivieri) starke Emotionen vermitteln. Ein Militärlager folgt unmittelbar dem Zimmer, in dem ein „Handwerker“ die Gliedmaßen von Schaufensterpuppen zusammenzusetzen versucht. Eine Metzgerin, umgeben von stinkendem Fleisch, schwingt das Fleischerbeil. Diese siebenminütige Reise durch den Palast beginnt damit, dass Kinder Sandburgen bauen und endet mit einem älteren nackten Paar, einem Mann und einer Frau, die sich zärtlich umarmen. Ein ganzer Lebensweg! Die schmale Grenze zwischen Realität und Unwirklichkeit ist überschritten.

(c) Marco Casalli Nirmal
(c) Marco Casalli Nirmal

Magier als Wegweiser für Wanderer

Von Don Quijote ist hier zunächst weit und breit keine Spur. Entlassen in den Garten des Palastes mit seinen schattenspendenden Bäumen, finden wir heraus, dass der „verzauberte“ Ort nur ein Gasthaus ist (dasjenige, in dem Don Quijote vom Wirt zum Ritter geschlagen wird). „Locanda“ (Wirtshaus) steht auf einem der oberen Fenster der Innenfassade. „Trash room“ (Müllraum) verrät die Schrift auf einer Tür im Erdgeschoss. Aus diesem Raum werden die drei Hauptfiguren aus Cervantes' Roman von zwei Magiern heraufbeschworen.

Hermanita und Marcus sind arme, fast mittellose Zauberer. Wir hatten sie schon im Prolog kennengelernt: Hermanita (Ermanna Montanari), die Magierin, „die Fäden verwickelt“. Sie sprach uns, die auf der Straße vor dem Palast versammelten Zuschauer, vom Balkon des Palazzo Malagola an. In einer hypnotisierenden, gemischten Sprache aus Italienisch, Spanisch, Romagnol, Arabisch und Grammelot hieß sie uns „Wanderer“ willkommen. Denn in Martinellis gewohnter dramaturgischer Manier ist jeder von uns ein Umherziehender, ein potenzieller Don Quijote. Schier verblüffend war Montanaris Sprach- und Stimmenvielfalt. Als sich dann das Palasttor öffnete, kam der zweite Zauberer zum Vorschein. Marcus (Marco Martinelli), der Magier „der den Fäden nachjagt“ war derjenige, der uns einlud, in den verzauberten Palast einzutreten.

 

(c) Marco Casalli Nirmal
(c) Marco Casalli Nirmal

Und nun, nach dem kurzen Rundgang durch die Räumlichkeiten des Gebäudes, beschwören die beiden im Garten des Palastes die Geister herauf. Dementsprechend treten aus dem „Müllraum“ Cervantes' archetypische Figuren ins Rampenlicht: Don Quijote, Sancho Panza und Dulcinea de Toboso. Doch es stellt sich bald heraus, dass es sich beim Trio letztendlich um Schauspieler handelt. Denn Don Quijote (interpretiert von Roberto Magnani) heißt Roberto del Castillo, Sancho Panza (gespielt von Alessandro Argnani) ist Aleandro Argnàn de Puerto Foras und Dulcinea ist Laura Ross de la Briansa (in Wahrheit Laura Redaelli). Durch die vorgeführte Sinnestäuschung sind wir, die Betrachter, in ein neues Spiel von Realität und Illusion, Geschichte und Gegenwart, eingebunden. 

(c) Marco Casalli Nirmal
(c) Marco Casalli Nirmal

Packende teilnehmende Bürgerchöre

Weit mehr als die drei Hauptdarsteller fällt nun der Einsatz der in Weiß gekleideten Bürger auf. Sei es der Chor der Jugendlichen, der Chor der Belagerung, der Chor der Gefangenen (die Don Quijote freilässt) oder der Chor von angeblich Vernünftigen, die Bücher verbrennen werden, um Don Quijote zu retten. Es wird getanzt zu gewaltiger live Musik aus dem 17. Jahrhundert oder zu sephardisch-andalusischen und kalabresischen Liedern, hervorragend interpretiert von der Rockband LEDA und ihrer charismatischen Sängerin Serena Abrami. Verschiedene Sprachen werden gesprochen, denn die Mitwirkenden sind Iraner, Tunesier oder Italiener, die ausschließlich das Romagnol (den Dialekt der Romagna-Gegend) sprechen.

(c) Marco Casalli Nirmal
(c) Marco Casalli Nirmal

Auch in diesem Teil ist jeder der zum Einsatz kommenden Gegenstände gut durchdacht: An der Innenfassade des Gebäudes lehnt eine hohe rote Holzleiter. In der Mitte des Gartens befindet sich eine rote Holzplattform in Form eines Kreuzes. Gereinigt zunächst von „der Frau, der das Wirtshaus gehört“, wird es zum Schauplatz der Geschichte. Episoden aus Cervantes‘ Roman werden durch zeitgenössische Bezüge unterbrochen. Wir sehen uns veranlasst, das eigene Fühlen und Denken zu hinterfragen und unsere Aufmerksamkeit auf unsere brennenden Wünsche zu richten, nach dem Vorbild des Ritters von La Mancha, Symbol des Träumers, der sich nicht mit Ungerechtigkeiten abfindet in einer Welt, die von Heuchelei und Missbrauch regiert wird.

Von den zahlreichen Szenen sticht der „Chor der Glossolalien“ hervor, ein einzigartiger Moment entwickelt von Ermanna Montanari, die durch ihre beeindruckenden stimmtechnischen Fähigkeiten die Masse von mal wütenden, mal gesprächigen Frauen auf atemberaubende Weise steuert. Und dann der Abschluss: die Bücherverbrennung durch den „Chor der Vernünftigen“. Die von den Bürgern gesprochenen Sätze sind von diesen selbst ausgedacht, als Antwort auf die Fragen, die Montanari und Martinelli ihnen gestellt haben: Welche Bücher haben „euer Leben verändert“? Welche haben euch zu der Vorstellung gebracht, dass diese Welt und ihre Ungerechtigkeiten verändert werden können? So wirft die wild gewordene „vernünftige“ Menschenmenge zum Beispiel „Die Brüder Karamasow“ (weil der Autor ein Russe ist), „Kraft zum Lieben“ von Martin Luther King (wegen dem veralteten und banalen Titel) oder „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez (weil der Lehrer im Gymnasium die Lektüre erzwungen hatte) „auf den Scheiterhaufen“. Martinelli und Montanari vermischen auch in diesem Werk auf beachtliche Weise Politisches und Poetisches. Don Quijote in Flammen setzen, mit dem Untertittel „Opera in fieri 2023“ des Teatro delle Albe (koproduziert vom Ravenna Festival) ist so erregend wie ein Liebesakt, in dem Stadt und Publikum, Theater und Leben, aufeinandertreffen.

 

es fängt immer so an, mit dem Verbrennen des Papiers

am Ende brennt das Fleisch!

es beginnt mit einer Bücherverbrennung

es endet mit einer Verbrennung von Frauen, Männern, Kindern!

Entkommet! Entkommet!“

  

fordert uns „Wanderer“ Hermanita auf. 2024 werden wir mit Sicherheit nach Ravenna zurückkommen, um den zweiten Teil mitzuerleben.


Hauseingang (c) Irina Wolf
Hauseingang (c) Irina Wolf

MALAGOLA – berauschender Aufbewahrungs- und Innovationsraum

Irina Wolf

(12.12.2021)

 

Es sind insgesamt fünfzehn Jugendliche, die sich im Praxisraum des Malagola-Palastes aufhalten. Jeder trägt ein kleines spiralenförmiges Blasinstrument mit sich. Einige Teilnehmer lehnen sich an die Wände, andere sitzen im Schneidersitz, das Gesicht zur Zimmermitte gewandt. Dort befinden sich ein Polster und ein paar Papierblätter. Es sind die Aufzeichnungen des US-amerikanischen Komponisten Alvin Curran, der seit den Sechzigerjahren in Italien lebt. Er ist auch anwesend und wird die 45-minütige Aufführung betreuen. Es herrscht Stille. Ich traue mich kaum zu atmen. Zusammen mit anderen vier Zuschauern bin ich Zeugin der ersten Präsentation des Malagola-Projektes. 

Konzipiert und geleitet von Ermanna Montanari ist Malagola eine Stimmtrainingsschule. Das Projekt hat seine Wurzeln in Montanaris vierzigjähriger, mehrfach preisgekrönter Forschungsarbeit zur Poetik der Stimme sowie in den über die Jahrzehnte kreierten soliden Partnerschaften auf nationaler und internationaler Ebene. Neben Montanari, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des Teatro delle Albe/Ravenna Teatro, ist Enrico Pitozzi, Wissenschaftler und Professor an der Universität Bologna, der stellvertretende Direktor. 

Klavier-Übungsraum (c) Enrico Fedrigoli
Klavier-Übungsraum (c) Enrico Fedrigoli

Austragungsort der Schule ist der gleichnamige Malagola-Palast aus dem 18. Jahrhundert. Gelegen auf der anderen Straßenseite der Basilika Sant’Apollinare in Ravenna, umfasst das prächtige Gebäude Theorie- und Praxisraum – Letzterer bereits mit speziellen schallabsorbierenden Platten ausgestattet, Tagungs- und Leseräume, einen Erfrischungsraum und mehrere Meditationsräume, die für die individuelle Arbeit der Kursteilnehmer bestimmt sind. Wurde die technologische Neugestaltung der Räume dem Sounddesigner und Musiker Marco Olivieri anvertraut, ist die visuelle Identität von Malagola vom Künstler Stefano Ricci signiert. Schon im Hauseingang ragt an der rechten Wand das Logo der Schule hervor: Das Klangsystem, das an der Decke des Raumes von einem Esel, dem Symbol des Teatro delle Albe, begleitet wird. Auch in anderen Zimmern gravierte Stefano Ricci die Steinmauern mit Holzkohle und belebte somit die kahlen Wände durch zauberthafte Figuren. 

Ziel der Schule ist es, neue professionelle Persönlichkeiten im Bereich Live-Entertainment und Multimedia-Produktion zu schaffen, ein Vorhaben, das auch im kurzen poetischen Manifest von Ermanna Montanari bekräftigt wird. Die für 2021 zugelassenen fünfzehn Teilnehmer wurden aus 131 Bewerbungen ausgewählt. Unter den Lehrern sind unter anderem neben Montanari und Pitozzi berühmte Künstler wie Bonnie Maranca, Mariangela Gualtieri, Meredith Monk, Chiara Guidi, Mirella Mastronardi, Roberto Latini, Luigi Ceccarelli, Daniele Roccato, Francesca Proia zu finden. Ein Studiengang besteht aus kostenlosen Kursen, die von Oktober bis April stattfinden. Das Programm umfasst eine technisch-praktische Ausbildung, begleitet von einem vertiefenden theoretischen Teil. Die fünf angebotenen Module reichen von Ästhetikumrissen der zeitgenössischen Theaterszene über Praktiken der Stimm- und Klanggestaltung bis hin zu Physiologieumrissen der Stimme und wirtschaftlichen sowie projektbezogenen Aspekten. 

Der Malagola-Palast wird gleichzeitig die audiovisuellen Dokumente des Teatro delle Albe in einem Medienarchiv verwalten. Durch den zauberhaften Garten, über den das Gebäude auch noch verfügt, eignet sich das Haus wie kaum ein anderes, um ein vibrierender Resonanzraum für Klang und Stimme zu werden.

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 10.03.2022)

Manifest der Stimmtrainingsschule (School of Vocality)

  1. Die Stimmtrainingsschule ist ein Ort der Ausübung einer freudigen und sehr anspruchsvollen Disziplin, eine Einrichtung, in der man sich auf ein Abenteuer mit der eigenen Stimme und dem eigenen Körper einlässt, um eine Erfahrung zu erleben, bei der die Stimme der Körper und jede Person ein Klangplanet ist. Jeder Teilnehmer tritt als Wurzelsubstanz in die Schule ein, um dann mit der Zeit Gestalt anzunehmen. Die Schule ist ein Ort der Mehrbestimmung, bevölkert und betrieben von der Stadt und zugleich von dieser sich unterscheidend, ein Bereich kollektiver Mitverantwortung abgeleitet aus dem Bewusstsein, dass jede unserer Zellen nicht nur ein sinnlicher, sondern auch ein fantasievoller und poetischer Geschichtsträger und Erinnerungsspeicher ist.

  1. Schule als Schweigen, lärmendes Schweigen, unerträgliche Wortquelle. Ein Ort, an dem die Wort-Sicht in ihrer mysteriösen, herrlichen, vierfachen Form verwurzelt ist: Bedeutung, Klang, Kraft und Schweigen, das Schweigen, das sie beschützt. Ein Ort, an dem alle lernen (sowohl Lernende als auch Lehrende), an dem es keine vorgeschriebenen Techniken gibt, eher eine disziplinäre Praxis, die sich der einzigartigen Form jedes Einzelnen und jedes Kollektivs anpasst. Diese Methode erfordert Zeit, Geduld und Gehorsamkeit, denn sie erlaubt dem Planeten eines jeden Individuums seinen Atem zu entdecken; dies ist weder leicht noch unmittelbar. Es wird für jeden Teilnehmer nützlich sein, sich auf das süße Gefühl einzulassen, auf den Weg des menschlichen Daseins vorwärtsgezogen zu werden, auf die Torheit weiterzumachen und zu akzeptieren, was auch immer passiert. In diesem Sinne erinnern wir uns an die Verse von Antonio Machado: „Reisender, es gibt keine Wege, Wege entstehen im Gehenˮ.

  1. Schule als Ort des Loslassens ohne Eile, des Vertreibens der Angst, sich zu zeigen, der Krankheit sich selbst darzustellen, der Plage sich selbst zu verkaufen. Ein Lernort, um Wolken-Zuschauer zu werden, um die Grenzen unserer Grenzen auszuloten.

  1. Schule als Ort der Auseinandersetzung mit der nördlichen Felswand unserer Stimme, der Wand, an der wir stolpern und fallen, „dunkler Waldˮ bitterer Einsamkeit. Ein Ort des Wartens. Ein Ort, um sich für den Aufstieg auszurüsten.

  1. Schule als Ort des Experimentierens mit dem Unmöglichen, um seinen eigenen verzerrten Mechanismus zu ehren. Die Qual der Stimme ohne Körper, ihr Versagen und das Aufkommen des Staunens. Ringen wir nicht immer mit einem unsichtbaren Etwas fest und unverrückbar wie eine Wand oder ein Felsen ohne Halt? Aber was ist schöner als ein Rippstrom zu sein, sich mit den Wasserwellen treiben zu lassen, bis Klang und Rhythmus unsere Augen und Ohren hypnotisieren; der Augenblick, in dem wir mit dem Widerspruch, den uns die Natur präsentiert, konfrontiert zu werden? Und der sich manchmal in unseren Poren versteckt?

  1. Schule als Rätsel, ein Ort des Anderen, der uns manchmal liebkost, ein anderes Mal abstößt, uns manchmal umhaut. Ort der Maske und ihrer Verbergungskraft als Wissensinstrument, eine andere, gefährliche Art, Zeichen zu sehen und zu lesen. Der Schauspieler ist derjenige, der dem Chor antwortet und sich dessen Urteil unterwirft. Die Bühne wird zum Schafott: Die Überquerung der Bühne beschwört ein stimmliches Abenteuer herauf; sie verlangt, aus demselben Stoff gemacht zu sein wie die schon dort seit Jahrtausenden bestehende, unbewegliche. An Ort und Stelle genagelt.

  1. Schule als Archiv des Zuhörens, denn ohne Zuhören gibt es keine Stimme. Ein Ort der Farben und Spuren derer, die uns vorausgegangen sind: Antonin Artaud, Laurie Anderson, Meredith Monk, Carmelo Bene, Maria Callas, der Wind, die Rosen, das Wasser, die Gebete, die Menschen, Demetrio Stratos, Leo de Berardinis, Perla Peragallo, Janis Joplin, und andere ihrer Gefährten und Reisegefährten.

  1. Schule als Garten, ein Ort, an dem niemand Trends hinterherläuft, keinem Geist der Mode, an dem sich niemand für das Neueste interessiert; vielmehr sehnt sich jeder zuerst danach, um das Lernen zu lernen, das selbst zu wählen, was es zu lernen gibt.

  1. Schließlich, Schule als freudiger Samen, der sich unter der Erde verbirgt und nachts aufkeimt.

Ermanna Montanari, Ravenna, 22. Februar 2020

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 10.03.2022)


(c) Enrico Fedrigoli
(c) Enrico Fedrigoli

Rettung für Mutter Erde – Die Hoffnung stirbt zuletzt

Irina Wolf

(06.12.2021)

 

Mutter (Madre) heißt Marco Martinellis neues zweiteiliges Theaterstück. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Generationenkonflikt zu handeln: Nachdem die in die Jahre gekommene Mutter in einen Schacht gefallen ist, plant ihr Sohn, sie aus dem Loch herauszuziehen, oder zumindest äußert er diese Absicht. Wer aber mit Martinellis Werken vertraut ist, weiß, dass seine Texte mehrere Ebenen aufweisen und das Publikum vor unterschiedliche intellektuelle Herausforderungen stellen.

Mutterˮ ist nicht nur die Darstellung eines Generationenkonfliktes. Dem Dramatiker und Regisseur Martinelli hat es ebenfalls am Herzen gelegen, sich der zerstörerischen Kraft des Menschen gegenüber der Natur anzunehmen. So verwandelt sich langsam das Bild einer dementen Greisin in die Mutter Erde. Auch der Einfluss der Technologie auf unser Leben sowie die Spaltung der Gesellschaft in der Flüchtlingsdebatte, die als Bedrohung wahrgenommen wird, sind in „Mutterˮ thematisiert. 

(c) Enrico Fedrigoli
(c) Enrico Fedrigoli

Weichenstellung fürs Leben

Das Stück besteht aus zwei Monologen. Zum einen spricht der Sohn von außerhalb des Schachtes auf die hineingefallene Mutter ein, zum anderen ertönt anschließend vom Grund des Brunnens die Stimme der Mutter. Durch raffiniertes Zusammenfügen von Wörtern enthüllt der Sohn nicht nur das Bild der Mutterfigur, sondern vielmehr das Bild der Welt an sich. Es ist ein von Technologie geprägter, menschenleerer Lebensraum, in dem täglich das Vertrauen in den Nächsten verloren geht. Ein Gewitter scheint diese Welt zu bedrohen: „Es ist überall dunkelˮ, Drachen und „eine Herde Dämonenpferde fressen alles auf, was ihnen in den Weg kommtˮ. Und obwohl der Sohn „groß und starkˮ, ein „echter Rieseˮ ist, ist er der Auffassung, die Mutter nicht alleine aus dem Schacht herausziehen zu können. Immer wieder findet er Gründe, um sich vor seiner Aufgabe zu drücken. Letztendlich, unter der immer akuter werdenden Bedrohung des Sturms, verschwindet der Sohn, um Hilfe zu holen. Und nun kommt die Mutter zu Wort.

Sie rätselt darüber, wie sie überhaupt in den Schacht hineingefallen ist. Eine Möglichkeit wäre, dass der Sohn sie aus Versehen hineingeschubst hat. Wie blind hetzt er ständig dahin, unfähig, irgendetwas in seiner Umgebung zu bemerken oder der Stimme der Natur zuzuhören. Die Mutter erzählt auch von der Legende vom gelben Kaiser und der Spiegelwelt, in der menschliche Wesen in einer anderen Welt gefangen sind. Durch die Kraft solcher Worte entstehen eindringliche Bilder in den Köpfen der Zuschauer. Marco Martinelli ist ein Meister der Symbole. Sein Drama lässt viele Fragen offen. Wird die Mutter im Schacht bis zur Auferstehung zu Ostern bleiben, wie der Sohn andeutet? Wird die kleine Schlange, die in die Haut der Mutter eindringt, zur Erneuerung führen? Oder wird das Reptil sie zerstören? Es gibt wenige Symbole, die so vieldeutig und vielschichtig sind und eine solche Spannbreite polyvalenter Bedeutungen aufweisen.

(c) Enrico Fedrigoli
(c) Enrico Fedrigoli

Musik, Text und Zeichnungen verschmelzen ineinander

Die zwei Monologe sind eingerahmt von Regieanweisungen. Marco Martinelli setzt „Mutterˮ zusammen mit der Schauspielerin Ermanna Montanari, dem Zeichner Stefano Ricci und dem Kontrabassisten und Komponisten Daniele Roccato auf der Bühne um. Montanari, zugleich Autorin und Bühnenbildnerin, mit Martinelli Mitbegründerin des Teatro delle Albe in Ravenna, verkörpert beide Protagonisten: den Sohn und die Mutter. Auf der Bühne befinden sich ein Kontrabass, eine Tischlampe, deren Schein auf runde Kartonbögen fällt und ein Notenpult mit Mikrofon. An Letzterem wird Montanari im Halbdunkel stehen und den Text übermitteln. Bekannt für ihre umfangreiche Untersuchung der Stimmmöglichkeiten kann Ermanna Montanari eine große Bandbreite von Gefühlen durch die Modulationsfähigkeit ihrer Stimme ausdrücken. So wird Martinellis Text geflüstert, gesprochen, zum Teil ausgerufen; zeitweise kommt ein Knarren oder ein Krächzen aus Montanaris Kehle. Passend dazu ertönt die von Daniele Roccato komponierte Musik.

In dem Künstler-Trio spielt Stefano Ricci eine ausschlaggebende Rolle. Auf dem Boden kniend, beugt er sich über schwarze Kartonbögen und zeichnet darauf mit weißer Kreide mit dem Text übereinstimmende Figuren und Orte, die in Echtzeit auf die hintere Bühnenwand projiziert werden. In Windeseile entstehen die Gestalt des Sohnes, sein Gesicht, eine Schlange, der höllenartige Schacht, der Sturm, die Mutter und vieles mehr. Zeitgleich mit dem Verschwinden des Sohnes verlässt auch Montanari die Bühne, um dann mit einer langen weißen Perücke auf dem Kopf zurückzukehren. Ein Symbol des Alters und der Weisheit der Erde. Die Aufführung, zusammengestellt vom Künstler-Quartett, erweist sich voll von solch bildhaften Ausdrücken. Ein Fest für Augen und Ohren. Zu Recht trägt Marco Martinellis Stück den Untertitel „szenisches Gedichtˮ.

 

In seiner letzten Illustration skizziert Stefano Ricci die Drachenwurz. Die weiße Calla als Symbol für Unsterblichkeit und zugleich als beliebte Blume für Beerdigungen. Ein offenes Ende?

aber vor allem,

gib nicht auf, 

verliere nie die Hoffnungˮ, ist die letzte Botschaft, die Martinellis Text überliefert. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 07.02.2022)