Bukarest: die Festivalstadt zwischen Realität und Experiment
(26.11.2024)
In Schwarz gekleidet, mit einer undefinierten Form und vor allem lautstark. Zu ohrenbetäubenden Soundeffekten bewegt sich die Fantasiefigur in der Mitte der Bühne, bis alle Zuschauer auf drei Seiten rundherum Platz nehmen. Doch wer ist diese garstige Erscheinung? So stellt sich Natasza Sołtanowicz die „Anomalie“ vor, die den menschlichen Alltag durcheinanderbringen kann. Die polnische Autorin und Regisseurin schafft am Nationaltheater in Craiova, im Südwesten Rumäniens, eine beeindruckende Show über die Reaktionen der Menschen auf unvorhersehbare Ereignisse, die im Leben Betroffenheit auslösen. Gleichfalls bemerkenswert ist die von der Regisseurin gezeichnete dynamische Choreografie: Neun Schauspieler bewegen sich wie Roboter, mit unglaublicher Präzision, zu düsteren elektronischen Klängen, einem ebenfalls von Sołtanowicz geschaffenen Soundtrack. Gleichermaßen faszinierend sind auch die Kostüme, allen voran die futuristischen Science-Fiction-Masken. Die Anomalie war eine spektakuläre Show, die sich perfekt an das Motto „Dramatiken des Möglichen“ der 34. Ausgabe des Nationalen Theaterfestivals (FNT) angepasst hat.
Über 30 Produktionen in einer Vielfalt von stilistischen und ästhetischen Formen wurden vom 18. bis 28. Oktober in Bukarest gezeigt. Mit einem besonders reichhaltigen und abwechslungsreichen Programm lieferten drei Kuratoren – Mihaela Michailov, Călin Ciobotari und Ionuț Sociu – einen guten Überblick über die dynamische rumänische Theaterszene. Eröffnet wurde das Festival mit einer Performance der bekannten deutschen Gruppe She She Pop – eine von fünf aus dem Ausland eingeladenen Produktionen. Dance me! war ein generationsübergreifender Wettbewerb zwischen zwei Teams: den älteren Künstlern von She She Pop und jüngeren Menschen. In einer als Boxring gestalteten Bühne tanzte jeweils eine Mannschaft zur Musik der anderen. Zwischendurch wurden alterstypische Erfahrungen und politische Einstellungen verhandelt. Während die Senioren Live-Songs vortrugen, verwendeten die Jugendlichen fast ausschließlich computergenerierte Beats. In einer der besten Szenen zeigten die älteren Performer einen Paartanz mit Orangen zwischen sich balancierend. Die spielerische generationsübergreifende Erkundung Dance Me! sorgte aufgrund ihrer experimentellen Konvention für kontroverse Reaktionen und bot dem Publikum eine andere Perspektive des Theatermachens.
Neben etablierten Regisseur-Namen wie Andrei Şerban, Tompa Gábor, Radu Afrim befanden sich im Programm eine Reihe jüngerer, experimentierfreudiger Künstler wie Catinca Drăgănescu, Eugen Jebeleanu, Botond Nagy. Ein eindeutiger Beweis des intergenerationellen Austausches zwischen Jung und Alt im rumänischen Theater. Adaptionen von Klassikern wie Shakespeare, Ionesco, Büchner und Ibsen – z. B. Hedda Gabler inszeniert von Thomas Ostermeier am Bukarester Nationaltheater – lockten die Besucher ebenso wie moderne Inszenierungen über brandaktuelle Themen.
Sexualpädagogik und Schwangerschaftsabbruch kritisch hinterfragt
Eine weitere aus dem Ausland eingeladene Produktion war Geschichten der Großmütter, die den Töchtern von ihren Müttern zugeflüstert werden. In dieser im polnischen Contemporary Theater Szczecin entstandene Performance der Dramatikerin und Regisseurin Gianina Cărbunariu geht es um die strengen Abtreibungsgesetze zum einen im ehemaligen rumänischen Kommunismus, zum anderen im gegenwärtigen katholischen Polen, wo Schwangerschaftsabbruch nur in drei Fällen erlaubt ist: Gefahr für Leib und Leben der Mutter, Vergewaltigung oder schwere Missbildung des ungeborenen Kindes. Cărbunarius polyfon aufgebauter Text verknüpft zwei Fälle, einen aus jedem Land. Von Anfang an offenbart die Inszenierung, dass Abtreibungsverbot ein weiterer Aspekt männlicher Dominanz in der Gesellschaft ist. Die fragmentarische Show, mit Live-Aufnahmen in einem einfachen, aber wirkungsvollen Bühnenbild, eröffnet ebenfalls einen Rahmen der Reflexion über das Theater. Die von der Regisseurin geschaffenen Bilder sind emotional aufgeladen und erzählen Geschichten, die tief berühren, ohne dabei die informative Komponente zu vernachlässigen.
Besonders schockierend war die Entdeckung, dass in Rumänien Sexualunterricht in den Lehrplänen schlicht und einfach fehlt. Genau aus diesem Grund erschien mir die Produktion Bujor des Theaters aus Galați (eine Stadt an der Donau, etwa 11 km von der Grenze zur Republik Moldau entfernt) in der Regie von Leta Popescu sehr mutig. Doru Vătavuluis Stück wechselt gekonnt zwischen zwei Zeitebenen: einer Debatte zwischen den Eltern von Gymnasiasten und dem Lehrer namens Bujor, und Rückblenden aus dessen eigener Schulerfahrung. Anspielungen auf die Homosexualität des Lehrers, die bestimmten konservativen Standards der rumänischen Gesellschaft nicht entspricht, werden mit viel Humor präsentiert. Eine notwendige, temporeiche Show, mit guten Schauspielern, die ihre Rollen glaubwürdig verkörpern. Hervorragend fand ich die Idee der Kuratorin Mihaela Michailov, nach jeder Aufführung, eine Diskussion mit dem Publikum zu organisieren. Bujor war Teil der Festivalsektion „Pädagogisches FNT“, zu der auch Das zerbrechliche Gefühl der Hoffnung (http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_buk_frm.htm ) gehörte.
Antisemitismus-Bekämpfung auf Deutsch und Ungarisch
Dass in Rumänien hochwertige ungarisch- und deutschsprachige Theatergruppen existieren, ist im Westen Europas oft unbekannt. Umso wichtiger ist ihre Präsenz im Festivalprogramm, insbesondere wenn die behandelten Themen von großer Relevanz sind. Sidy Thal (Koproduzenten: Deutsches Staatstheater Temeswar und Jüdisches Staatstheater Bukarest) erzählt die Geschichte eines antisemitischen Angriffs der faschistischen Bewegung „Die Eiserne Garde“ am 26. November 1938, als während eines Auftritts der jüdischen Sängerin Sidy Thal zwei Handgranaten explodierten. Vier Menschen starben, weitere siebzig wurden verletzt. Dramatiker Thomas Perle und Regisseur Clemens Bechtel betrachten das Attentat aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Produktion sticht durch Mehrsprachigkeit hervor: Sidy Thal spricht auf Jiddisch, während die anderen Charaktere, manchmal innerhalb desselben Monologs, zwischen Deutsch und Rumänisch wechseln. Dazu gibt es englische Übertitel. Überdies ist das Anlegen der Inszenierung als Wandertheater ein ungewöhnliches Konzept. Dem Prolog im Foyer des Jüdischen Theaters folgte ein Rundgang um die Synagoge, bei dem Dialoge und Monologe über Kopfhörer abgespielt wurden. Anschließend begaben sich die Zuschauer in den Theatersaal. Unerfreulich fand ich, dass der kurze Spaziergang im Freien von mehreren Polizisten zu unserer eigenen Sicherheit begleitet werden musste. Eine wertvolle Show, die in der gegenwärtigen Zeit des weltweiten Aufstiegs des Rechtsextremismus Alarm schlägt. Manchmal überholt die Realität das Theater: Noch während ich diese Zeilen schreibe, ist bekannt geworden, dass der ultrarechte Kandidat Călin Georgescu die meisten Stimmen in der ersten Runde der Präsidentenwahl in Rumänien erhalten hat!
Auch Kerzen der Gerechtigkeit thematisiert den Antisemitismus (Regie: Aba Sebestyén, eine Produktion der Gruppe „Tompa Miklós“ des Nationaltheaters Târgu Mureș). Ausgehend von der wahren Geschichte der Sabbatariergemeinschaft in einem siebenbürgischen Dorf liefert der Dramatiker Csaba Székely eine eindrucksvolle Analyse der menschlichen Natur. Es geht mit schwarzem Humor um Beziehungen zwischen Familien sowie zwischen diesen und den dörflichen Institutionen, als sich die sabbatarischen Szekler während des Zweiten Weltkriegs mit nationalsozialistischen Tendenzen der Budapester Behörden konfrontiert sahen. In guter ungarischer Theatertradition sorgte ein Orchester live auf der Bühne für unvergessliche musikalische Momente. Weiterhin überzeugte das gesamte Ensemble mit bester Schauspielkunst.
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Das Staatstheater Constanța, aus der südostrumänischen Stadt am Ufer des Schwarzen Meeres, und das Theater „Andrei Mureșanu“ aus Sfântu Gheorghe, die mit jeweils zwei Produktionen im Festival vertreten waren, bestachen durch äußerst begabte junge Schauspiel-Kollektive (http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_sepsi_frm.htm ). Eine Hommage an Regisseur Silviu Purcărete im Rahmen des Moduls „50 Jahren Theaterarbeit“, ein Fokus auf „12 unabhängige/private Schauspielstätten“, szenische Lesungen neuer Stücke, 58 (!) Buchpräsentationen und eine Produktion des Nationaltheaters „Mihai Eminescu“ aus Chişinău, Republik Moldau, ergänzten das Programm. Dennoch bleibt für mich Wer hat meinen Vater umgebracht? von Édouard Louis das Highlight der gesamten Theatersaison: eine tadellos synchronisierte Choreografie gezeichnet von Andrea Gavriliu, eine Demonstration schauspielerischer Virtuosität, Andrei Măjeris brillante Regie im Metropolis-Theater, Bukarest (http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_suczawa_frm.htm ).
(auch in www.aurora-magazin.at vom 13.12.2024)
Vielfalt feiern am Nationaltheaterfestival Bukarest
(07.11.2023)
Schon beim Betreten des Theatersaals wird uns ganz schnell klar: Das ist keine klassische Darbietung. Vor allem fallen die mit kleinen Lampen ausgestatteten acht Tische vor der Bühne auf. An einem davon nehme ich Platz. Zwischen uns spaziert die junge Schauspielerin Oana Jipa. Mit einer Frisur der Kabarettlandschaft im frühen 20. Jahrhundert und schwarzem Anzug eröffnet Jipa als Animatorin, vor einem geschlossenen roten Vorhang stehend, den Theaterabend. Ausgehend von Yann Verburghs einfallsreicher Neufassung von Arthur Schnitzlers Reigen präsentiert Regisseur Eugen Jebeleanu in La Ronde ein Labor der Emotionen, das Paarbeziehungen in der gegenwärtigen Gesellschaft neu überdenkt. Sex wird unter anderem als Machtverhältnis untersucht. So zum Beispiel in der Szene mit einer offenbar linken Politikerin, die an ein Kreuz mit der Aufschrift „Gott ist eine Frau“ genagelt ist und durch ihre als Nonne verkleidete sadistische Partnerin verbal angegriffen wird. Das gesamte Ensemble des „Andrei Mureşanu“-Theaters in Sfântu Gheorghe leistet beeindruckende Arbeit, bietet eine intensive, mit vollem Einsatz geführte Vorstellung. Manchmal setzen sich Schauspieler an die Tische und schenken uns Bier zur Verkostung ein. Ob die Paare männlich, weiblich oder divers sind, Jebeleanu inszeniert die Verkettung von Beziehungen mit viel Gefühl und zartem Humor.
La Ronde fügte sich gut in das vom Kuratorenteam für die diesjährige 33. Ausgabe des Nationaltheaterfestivals vorgeschlagene Konzept. Mit „Laboratories of the Sensitive“ traf das Kuratoren-Trio, bestehend aus Mihaela Michailov, Oana Cristea Grigorescu und Călin Ciobotari, seine Auswahl im Zeichen aktueller thematischer Forschung, unkonventioneller künstlerischer Theatersprachen, neuer Formen der Dramaturgie und der szenischen Aufwertung des Körpers. Außerdem wurde großer Wert auf die Theaterdynamik auf regionaler Ebene gelegt sowie auf Kreationen, deren Ästhetik einen ethischen Standpunkt aufwiesen. Zu den 30 aus den 150 Uraufführungen der vergangenen Saison ausgewählten rumänischen Produktionen kamen performative und visuelle Installationen, Lesungen zeitgenössischer Theaterstücke, Aufführungen in Schulen, Debatten, Konferenzen, Ausstellungen, Buchpräsentationen, Radiotheatersendungen sowie drei internationale Gastspiele bedeutender europäischer Produzenten.
Fokus auf Gesellschaftspolitisches
Eröffnet wurde das Festival mit Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu töten des gefeierten portugiesischen Theatermachers Tiago Rodrigues, das schon 2021 bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde. Rodrigues' politischer Diskurs, ob Gewalt im Kampf gegen Populismus hilft, löste auch in Bukarest – wie in den meisten Ländern, in denen die Produktion gespielt wurde – heftige Reaktionen im Publikum aus, allerdings nur an einem der zwei Aufführungsabende. Nahezu regungslos saßen die Zuschauer im Saal bei der Eröffnungsaufführung. Überraschenderweise waren am darauffolgenden Abend Teile des Publikums beim radikalen Schlussmonolog erzürnt: Zahlreiche Zuschauer schienen zu vergessen, dass es sich um Theater handelte und fingen an, laut zu schreien und zu buhen.
Gleichermaßen übte die Produktion Die jungen Barbaren vom Ungarischen Staatstheater in Klausenburg eine scharfe Kritik an der Idee des Nationalismus als Staatsideologie. Basierend auf dem Text von Miklós Vecsei H. und der Improvisationsarbeit des Teams erkundete die Aufführung in unglaublich schnellem Tempo die Freundschaft zwischen den zwei berühmten ungarischen Komponisten Bartók Béla und Kodály Zoltán. In Attila Vidnyánszkys jr. Inszenierung verschmelzen Schauspiel, Choreografie und klassische Live-Musik zu einem Gesamtkunstwerk. Den acht Schauspielern und vier Tänzern, die auf der Bühne von Mitgliedern des Musikensembles begleitet werden, gelingt es, die Geschichte eindrucksvoll darzustellen.
Mehrere Produktionen untersuchten gesellschaftspolitische Themen wie Migration, Diskriminierung von Frauen in patriarchalen Systemen, chauvinistische und antisemitische Einstellungen. Es war ferner ebenfalls interessant zu beobachten, dass die diesjährige Ausgabe sich einer zunehmend ausgeprägten Präsenz von Regisseurinnen erfreute: Alexandra Badea brachte Exil auf die Bühne des Nationaltheaters Bukarest (siehe http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_exile_frm.htm), Nicoleta Esinencu Die Apokalypse der Hausfrauen am Theater der Jugend in Piatra Neamţ und Gianina Cărbunariu Magyarosarus Dacus am ungarischen Szigligeti-Theater in Großwardein (siehe http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_piatran_frm.htm).
Im zweiten internationalen Gastspiel erzählte Corinne Jaber, eine Künstlerin syrisch-deutscher Herkunft, die Reise ihres fiktiven Alter Egos durch den Libanon und Jordanien in den Bürgerkrieg nach Syrien. In ihrer One-Woman-Show Oh My Sweet Land sorgte das Live-Kochen auf der Bühne für eine unmerkliche Vermittlung von grundlegenden Begriffen wie Identität und Heimat. Schade nur, dass wir vom traditionellen syrischen Gericht Kibbeh nicht kosten durften. Truth's a Dog Must to Kennel hieß das dritte internationale Gastspiel. Die 70-minütige One-Man-Show von Tim Crouch entpuppte sich als eine originelle Neuinterpretation von König Lear. Lediglich mit einem VR-Headset ausgerüstet, auf der leeren Bühne stehend, kommentierte Crouch Shakespeares berühmtes Stück auf eine spannende Weise und regte unsere Fantasie an.
Meeresgeschichten und ein Techno-Konzert über Sauerstoff
Eine große Vielfalt von Theaterformen bot das RNTF, das vom 20. bis 30. Oktober in Bukarest bei strahlendem Sonnenschein und ungewöhnlich warmen Temperaturen stattfand. Für volle Säle sorgte wieder einmal der arrivierte Regisseur Radu Afrim. Gleich zwei seiner Inszenierungen fanden sich im Programm wieder. Aufgrund der großen Nachfrage wurden zwei weitere Vorstellungen von Seaside Stories zu der ursprünglich geplanten hinzugefügt. Die dreistündige Produktion des Staatstheaters aus Constanţa, die 2023 den UNITER-Preis gewonnen hat, ist eine Abfolge von Geschichten mit unterschiedlichen Charakteren aus Badeurlauben am Meer. Afrim schafft es, die anspielungsreichen Collagen, verfasst von sieben verschiedenen Autoren sowie zwei seiner eigenen Texte, auf wundersame Weise auf der Bühne zusammenzubringen. Herbarium hieß Radu Afrim's zweite Inszenierung – ein wunderbar poetisches Bildmaterial über die Art und Weise, wie Charaktere unterschiedlichen Alters sich eng mit der Natur verbunden fühlen.
Schauspieler Pálffy Tibor widmete sich der Regie von Iwan Wyrypajews Stück Sauerstoff und kreierte eine technisch aufwendige Inszenierung mit vielen Ton- und Videoeinspielungen. Die Produktion des „Támasi Áron“-Theaters aus Sfântu Gheorghe nutzte einen unkonventionellen Rahmen für den vom polnisch-russischen Dramatiker 2002 verfassten mystisch-ironischen Text, in dem jede der zehn Szenen unter einem Motto aus der Bibel steht. Getrennt von zwei in Kreuzform angebrachten transparenten Wänden agierten die zwei sehr guten Schauspieler Janka Korodi und Bence Kónya-Ütő – Letzterer zeichnete auch verantwortlich für das Klanguniversum, das hauptsächlich aus live gemischter Techno-Musik besteht. Monologe, Hip-Hop-Szenen, Videoprojektionen und Filmeinblendungen bildeten ein stimmiges künstlerisches Produkt.
Das Pädagogik-Paket
Zum zweiten Mal in Folge bot das Nationaltheaterfestival eine Reihe von Lesungen von Texten europäischer Dramatiker an. Besonders spannend erwiesen sich die anschließenden Diskussionsrunden, an denen Autoren, Künstler und Experten teilnahmen. Dieses vom Regisseur Bobi Pricop koordinierte Performance-Lesemodul bot die Gelegenheit, Stücke kennenzulernen, die zum ersten Mal in Rumänien vorgestellt wurden und sich mit brandaktuellen Themen wie Umwelt- und Datenschutz oder sexuelle Belästigung befassen (z.B. „jenseits von fukuyama“ von Thomas Köck). Wurden bei der letztjährigen Festival-Ausgabe alle szenischen Lesungen von Bobi Pricop geboten, so waren dieses Jahr die stark gekürzten Texte von insgesamt sechs Regisseuren und Regisseurinnen am Anfang ihrer Laufbahn in Szene gesetzt.
Das 2022 ins Leben gerufene Modul „Pädagogisches RNTF“, das sich auf zwei Komponenten konzentriert – Präsentation von Theateraufführungen in Schulen und Gymnasien in Bukarest sowie Theaterworkshops für Kinder und Jugendliche mit Hör- oder Seh-Beeinträchtigungen bzw. neurologische Behinderungen – wurde dieses Jahr durch „Laborkapseln in rumänischen Theaterfakultäten“ erweitert, in denen etablierte Künstler wie Mariana Mihuț, Miklós Bács, Răzvan Mazilu, Botond Nagy, den Studierenden die Möglichkeit gaben, sich neue performative Modelle anzueignen.
Das RNTF agiert auch als Produzent. Die mit Spannung erwartete Premiere von Gertrude, produziert vom Nationaltheater Bukarest und dem RNTF, war ein durchschlagender Erfolg. Die Neufassung von Hamlets Geschichte durch den Dramatiker Radu F. Alexandru mit rein männlicher Besetzung markierte die Rückkehr des beliebten Regisseurs Silviu Purcărete nach Bukarest. Am Schluss des Festivals noch ein Höhepunkt: die groß angelegte Produktion des Nationaltheaters „Mihai Eminescu“ aus Temeswar in der Regie des berühmten litauischen Oskaras Koršunovas. Exodus erwies sich als eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Thema Auswanderung, eine musikalische Show, die Hoffnung in den Vordergrund rückte. „Das Angebot der diesjährigen Ausgabe des Nationaltheaterfestivals war komplex und reichhaltig, hat Interesse, Bewunderung oder heiße Kontroversen erweckt. Es war ein Festspiel der Gegenwart und zugleich zukunftsorientiert!“, meinte abschließend Aura Corbeanu, Vizepräsidentin des Rumänischen Theaterverbandes UNITER und Geschäftsführerin des RNTFs. In einer zunehmend aggressiven und unberechenbaren Welt bleibt das Nationaltheaterfestival eine intensive und beachtliche Erfahrung.
(auch in www.aurora-magazin.at vom 27.01.2024)