Vielfalt feiern am Nationaltheaterfestival Bukarest
(07.11.2023)
Schon beim Betreten des Theatersaals wird uns ganz schnell klar: Das ist keine klassische Darbietung. Vor allem fallen die mit kleinen Lampen ausgestatteten acht Tische vor der Bühne auf. An einem davon nehme ich Platz. Zwischen uns spaziert die junge Schauspielerin Oana Jipa. Mit einer Frisur der Kabarettlandschaft im frühen 20. Jahrhundert und schwarzem Anzug eröffnet Jipa als Animatorin, vor einem geschlossenen roten Vorhang stehend, den Theaterabend. Ausgehend von Yann Verburghs einfallsreicher Neufassung von Arthur Schnitzlers Reigen präsentiert Regisseur Eugen Jebeleanu in La Ronde ein Labor der Emotionen, das Paarbeziehungen in der gegenwärtigen Gesellschaft neu überdenkt. Sex wird unter anderem als Machtverhältnis untersucht. So zum Beispiel in der Szene mit einer offenbar linken Politikerin, die an ein Kreuz mit der Aufschrift „Gott ist eine Frau“ genagelt ist und durch ihre als Nonne verkleidete sadistische Partnerin verbal angegriffen wird. Das gesamte Ensemble des „Andrei Mureşanu“-Theaters in Sfântu Gheorghe leistet beeindruckende Arbeit, bietet eine intensive, mit vollem Einsatz geführte Vorstellung. Manchmal setzen sich Schauspieler an die Tische und schenken uns Bier zur Verkostung ein. Ob die Paare männlich, weiblich oder divers sind, Jebeleanu inszeniert die Verkettung von Beziehungen mit viel Gefühl und zartem Humor.
La Ronde fügte sich gut in das vom Kuratorenteam für die diesjährige 33. Ausgabe des Nationaltheaterfestivals vorgeschlagene Konzept. Mit „Laboratories of the Sensitive“ traf das Kuratoren-Trio, bestehend aus Mihaela Michailov, Oana Cristea Grigorescu und Călin Ciobotari, seine Auswahl im Zeichen aktueller thematischer Forschung, unkonventioneller künstlerischer Theatersprachen, neuer Formen der Dramaturgie und der szenischen Aufwertung des Körpers. Außerdem wurde großer Wert auf die Theaterdynamik auf regionaler Ebene gelegt sowie auf Kreationen, deren Ästhetik einen ethischen Standpunkt aufwiesen. Zu den 30 aus den 150 Uraufführungen der vergangenen Saison ausgewählten rumänischen Produktionen kamen performative und visuelle Installationen, Lesungen zeitgenössischer Theaterstücke, Aufführungen in Schulen, Debatten, Konferenzen, Ausstellungen, Buchpräsentationen, Radiotheatersendungen sowie drei internationale Gastspiele bedeutender europäischer Produzenten.
Fokus auf Gesellschaftspolitisches
Eröffnet wurde das Festival mit Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu töten des gefeierten portugiesischen Theatermachers Tiago Rodrigues, das schon 2021 bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde. Rodrigues' politischer Diskurs, ob Gewalt im Kampf gegen Populismus hilft, löste auch in Bukarest – wie in den meisten Ländern, in denen die Produktion gespielt wurde – heftige Reaktionen im Publikum aus, allerdings nur an einem der zwei Aufführungsabende. Nahezu regungslos saßen die Zuschauer im Saal bei der Eröffnungsaufführung. Überraschenderweise waren am darauffolgenden Abend Teile des Publikums beim radikalen Schlussmonolog erzürnt: Zahlreiche Zuschauer schienen zu vergessen, dass es sich um Theater handelte und fingen an, laut zu schreien und zu buhen.
Gleichermaßen übte die Produktion Die jungen Barbaren vom Ungarischen Staatstheater in Klausenburg eine scharfe Kritik an der Idee des Nationalismus als Staatsideologie. Basierend auf dem Text von Miklós Vecsei H. und der Improvisationsarbeit des Teams erkundete die Aufführung in unglaublich schnellem Tempo die Freundschaft zwischen den zwei berühmten ungarischen Komponisten Bartók Béla und Kodály Zoltán. In Attila Vidnyánszkys jr. Inszenierung verschmelzen Schauspiel, Choreografie und klassische Live-Musik zu einem Gesamtkunstwerk. Den acht Schauspielern und vier Tänzern, die auf der Bühne von Mitgliedern des Musikensembles begleitet werden, gelingt es, die Geschichte eindrucksvoll darzustellen.
Mehrere Produktionen untersuchten gesellschaftspolitische Themen wie Migration, Diskriminierung von Frauen in patriarchalen Systemen, chauvinistische und antisemitische Einstellungen. Es war ferner ebenfalls interessant zu beobachten, dass die diesjährige Ausgabe sich einer zunehmend ausgeprägten Präsenz von Regisseurinnen erfreute: Alexandra Badea brachte Exil auf die Bühne des Nationaltheaters Bukarest (siehe http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_exile_frm.htm), Nicoleta Esinencu Die Apokalypse der Hausfrauen am Theater der Jugend in Piatra Neamţ und Gianina Cărbunariu Magyarosarus Dacus am ungarischen Szigligeti-Theater in Großwardein (siehe http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_piatran_frm.htm).
Im zweiten internationalen Gastspiel erzählte Corinne Jaber, eine Künstlerin syrisch-deutscher Herkunft, die Reise ihres fiktiven Alter Egos durch den Libanon und Jordanien in den Bürgerkrieg nach Syrien. In ihrer One-Woman-Show Oh My Sweet Land sorgte das Live-Kochen auf der Bühne für eine unmerkliche Vermittlung von grundlegenden Begriffen wie Identität und Heimat. Schade nur, dass wir vom traditionellen syrischen Gericht Kibbeh nicht kosten durften. Truth's a Dog Must to Kennel hieß das dritte internationale Gastspiel. Die 70-minütige One-Man-Show von Tim Crouch entpuppte sich als eine originelle Neuinterpretation von König Lear. Lediglich mit einem VR-Headset ausgerüstet, auf der leeren Bühne stehend, kommentierte Crouch Shakespeares berühmtes Stück auf eine spannende Weise und regte unsere Fantasie an.
Meeresgeschichten und ein Techno-Konzert über Sauerstoff
Eine große Vielfalt von Theaterformen bot das RNTF, das vom 20. bis 30. Oktober in Bukarest bei strahlendem Sonnenschein und ungewöhnlich warmen Temperaturen stattfand. Für volle Säle sorgte wieder einmal der arrivierte Regisseur Radu Afrim. Gleich zwei seiner Inszenierungen fanden sich im Programm wieder. Aufgrund der großen Nachfrage wurden zwei weitere Vorstellungen von Seaside Stories zu der ursprünglich geplanten hinzugefügt. Die dreistündige Produktion des Staatstheaters aus Constanţa, die 2023 den UNITER-Preis gewonnen hat, ist eine Abfolge von Geschichten mit unterschiedlichen Charakteren aus Badeurlauben am Meer. Afrim schafft es, die anspielungsreichen Collagen, verfasst von sieben verschiedenen Autoren sowie zwei seiner eigenen Texte, auf wundersame Weise auf der Bühne zusammenzubringen. Herbarium hieß Radu Afrim's zweite Inszenierung – ein wunderbar poetisches Bildmaterial über die Art und Weise, wie Charaktere unterschiedlichen Alters sich eng mit der Natur verbunden fühlen.
Schauspieler Pálffy Tibor widmete sich der Regie von Iwan Wyrypajews Stück Sauerstoff und kreierte eine technisch aufwendige Inszenierung mit vielen Ton- und Videoeinspielungen. Die Produktion des „Támasi Áron“-Theaters aus Sfântu Gheorghe nutzte einen unkonventionellen Rahmen für den vom polnisch-russischen Dramatiker 2002 verfassten mystisch-ironischen Text, in dem jede der zehn Szenen unter einem Motto aus der Bibel steht. Getrennt von zwei in Kreuzform angebrachten transparenten Wänden agierten die zwei sehr guten Schauspieler Janka Korodi und Bence Kónya-Ütő – Letzterer zeichnete auch verantwortlich für das Klanguniversum, das hauptsächlich aus live gemischter Techno-Musik besteht. Monologe, Hip-Hop-Szenen, Videoprojektionen und Filmeinblendungen bildeten ein stimmiges künstlerisches Produkt.
Das Pädagogik-Paket
Zum zweiten Mal in Folge bot das Nationaltheaterfestival eine Reihe von Lesungen von Texten europäischer Dramatiker an. Besonders spannend erwiesen sich die anschließenden Diskussionsrunden, an denen Autoren, Künstler und Experten teilnahmen. Dieses vom Regisseur Bobi Pricop koordinierte Performance-Lesemodul bot die Gelegenheit, Stücke kennenzulernen, die zum ersten Mal in Rumänien vorgestellt wurden und sich mit brandaktuellen Themen wie Umwelt- und Datenschutz oder sexuelle Belästigung befassen (z.B. „jenseits von fukuyama“ von Thomas Köck). Wurden bei der letztjährigen Festival-Ausgabe alle szenischen Lesungen von Bobi Pricop geboten, so waren dieses Jahr die stark gekürzten Texte von insgesamt sechs Regisseuren und Regisseurinnen am Anfang ihrer Laufbahn in Szene gesetzt.
Das 2022 ins Leben gerufene Modul „Pädagogisches RNTF“, das sich auf zwei Komponenten konzentriert – Präsentation von Theateraufführungen in Schulen und Gymnasien in Bukarest sowie Theaterworkshops für Kinder und Jugendliche mit Hör- oder Seh-Beeinträchtigungen bzw. neurologische Behinderungen – wurde dieses Jahr durch „Laborkapseln in rumänischen Theaterfakultäten“ erweitert, in denen etablierte Künstler wie Mariana Mihuț, Miklós Bács, Răzvan Mazilu, Botond Nagy, den Studierenden die Möglichkeit gaben, sich neue performative Modelle anzueignen.
Das RNTF agiert auch als Produzent. Die mit Spannung erwartete Premiere von Gertrude, produziert vom Nationaltheater Bukarest und dem RNTF, war ein durchschlagender Erfolg. Die Neufassung von Hamlets Geschichte durch den Dramatiker Radu F. Alexandru mit rein männlicher Besetzung markierte die Rückkehr des beliebten Regisseurs Silviu Purcărete nach Bukarest. Am Schluss des Festivals noch ein Höhepunkt: die groß angelegte Produktion des Nationaltheaters „Mihai Eminescu“ aus Temeswar in der Regie des berühmten litauischen Oskaras Koršunovas. Exodus erwies sich als eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Thema Auswanderung, eine musikalische Show, die Hoffnung in den Vordergrund rückte. „Das Angebot der diesjährigen Ausgabe des Nationaltheaterfestivals war komplex und reichhaltig, hat Interesse, Bewunderung oder heiße Kontroversen erweckt. Es war ein Festspiel der Gegenwart und zugleich zukunftsorientiert!“, meinte abschließend Aura Corbeanu, Vizepräsidentin des Rumänischen Theaterverbandes UNITER und Geschäftsführerin des RNTFs. In einer zunehmend aggressiven und unberechenbaren Welt bleibt das Nationaltheaterfestival eine intensive und beachtliche Erfahrung.
(auch in www.aurora-magazin.at vom 27.01.2024)