Fußgänger der Luft (c) Nicu Cherchiu
Fußgänger der Luft (c) Nicu Cherchiu

Angst: Einsicht in die Andersartigkeit des Anderen

(20.11.2024)

 

Wer ist der Andere, mit dem ich das Dasein teile? Ist er so, wie ich ihn mir vorstelle? Und wer bin ich wirklich? Kann ich die verschiedenen Rollen, die ich im täglichen Leben spiele, auseinanderhalten? Schaffe ich es, in unserer von Virtualität geprägten Gegenwart zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden? Zum Nachdenken über diese grundlegenden Fragen unserer heutigen Gesellschaft luden Mihai Măniuţiu, Direktor des rumänischen Nationaltheaters in Klausenburg und Ştefana Pop-Curşeu, künstlerische Leiterin desselben Theaters, in der 13. Ausgabe des Festivals „Internationale Begegnungen“ ein.

 

Die fünftägigen als Showcase konzipierten Festspiele legen großen Stellenwert auf die von Theaterkritikern geführten Dialoge mit den Teams und Darstellern, die am Tag nach den jeweiligen Vorstellungen stattfinden. Dadurch bietet das Festival eine Plattform sowohl für ein besseres Verständnis der Welt als auch, um ein Verantwortungsgefühl für die Zukunft zu entwickeln, und wird seinem Namen gerecht. Vom 16. bis 20. Oktober standen auf dem Festivalprogramm Produktionen vereint unter dem Konzept der „Andersartigkeit“ wie Die zwölfte Nacht oder was ihr wollt nach William Shakespeare (Regie: Botond Nagy) oder Der Königshirsch von Carlo Gozzi (Regie: Tudor Lucanu). Außer diesen, im Hauptsaal des Theatergebäudes gezeigten Vorstellungen, fanden weitere Aufführungen im Euphorion-Studio, der Spielstätte für neue Dramatik und Theaterexperimente, statt. Diese basierten auf Texten zeitgenössischer rumänischer Autoren wie Horia Garbea, Cosmin Stănilă oder Alexandra Felseghi (Göttinnen der Kategorie B in der Regie von Andrei Măjeri – siehe http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_bukarest_frm.htm ). 

We bombed in New Haven (c) Nicu Cherciu
We bombed in New Haven (c) Nicu Cherciu

Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine beschäftigten sich gleich zwei Produktionen mit dem Krieg. Zum einen die 1967 verfasste Anti-Kriegskomödie We Bombed in New Haven von Joseph Heller, die thematisch teilweise an dessen berühmten Roman „Catch-22“ anknüpft. In Hellers Stück, das sich mit einem strategischen Bombengeschwader befasst, wird das Theater selbst zum Thema. Somit handelt es sich um ein Metatheater, denn der Geschwader-Kommandant tritt häufig aus seiner Rolle heraus, um dem Publikum zu versichern, das sei bloß ein Theaterstück. Diese Einbildung wird bis zu dem Punkt getragen, an dem die Schauspieler selbst Verwirrung darüber zeigen, ob sie nur Darsteller oder echte Piloten sind. Heller verwendet dieses Balancieren an der Grenze zwischen Realität und Fiktion, um eine satirische Analyse der Menschen zu liefern, die Krieg als Spektakel behandeln. Der ironische Titel des Stücks wird vom nordamerikanischen New Haven erweitert, indem die „Piloten“ den absurden Befehl erhalten, Konstantinopel als Ziel zu bombardieren. Letztendlich ist es so weit, dass die Tochter des Kommandanten den Bombardierunden zum Opfer fällt. Regisseur László Bocsárdi geht es in seiner gelungenen Inszenierung um zwei Themen, die zu diesem schrecklichen Ende führen: zum einen um das Vorhandensein einer Diktatur aufgrund einer gestörten politischen Führung und, zum anderen, um den zwiespältigen Charakter des Prototyps des Bürgers, für den Bequemlichkeit das Wichtigste im Leben ist.

Fußgänger der Luft (c) Nicu Cherchiu
Fußgänger der Luft (c) Nicu Cherchiu

Krieg und Zerstörung finden sich auch in Gábor Tompas Inszenierung Der Fußgänger der Luft wieder. In Eugène Ionescos Stück geht es um die Träume des Schriftstellers Bérenger, ein Doppelgänger des Autors. Dieser ist bereit, seine Ängste und Visionen über eine ungewisse Zukunft jedem, dem er begegnet, zu offenbaren. Die Handlung spielt in England, auf einer Wiese geschmückt mit ein paar Bäumen. Es scheint ein paradiesischer Ort zu sein. Adrian Damians Bühnenbild aus aufblasbaren Elementen gleicht eindrucksvoll den Träumen, die wie flauschige Wolken dargestellt werden. Komische Charaktere in farbenfrohen Kostümen beleben die Szene: Der britische Konservatismus wird in der Person von John Bull parodiert; der Bestatter trägt einen leeren Sarg auf dem Rücken. Das seltsame Überqueren der Szenerie durch Passanten aus einer absurden Welt regt zu Überlegungen über das Leben und den Tod an. Ionescus Text steigert sich in abstrakte Debatten über die Zeitlosigkeit, die Harmonie der Sphären und die Kommunikation. Irgendwann erhebt sich der Protagonist in die Lüfte und verschwindet. Nach seiner Rückkehr berichtet er jedoch von grauenhaften Erlebnissen, von Bomben und Paradiesen in Flammen. Gleichzeitig werden im Hintergrund Bilder von herumirrenden Planeten, fliegenden Brücken und Häusern, sowie funkelnden Sternen projiziert. Gábor Tompas Inszenierung holt Ionescos Welt voller Wahnvorstellungen eindrücklich auf die Bühne.

Lieder, die die Angst vertreiben (c) Nicu Cherciu
Lieder, die die Angst vertreiben (c) Nicu Cherciu

Mein persönliches Highlight war eine konzertante Performance von Ada Milea. Lieder, die die Angst vertreiben basiert auf Texten der Nobelpreisträgerin Herta Müller. Diese arbeitete im kommunistischen Rumänien in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin, verlor aber ihre Stelle, weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst zu bespitzeln. Anschließend fand sie nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre, Hausdurchsuchungen und Verleumdungen. Obwohl Herta Müller 1987 nach Berlin ausreisen konnte, sitzt auch heute noch die Angst sehr tief. Zwischen Buchstaben und Wörtern (wie Schnee oder Himmel), gekonnt eingesetztem Licht und Objekten (wie Taschentüchern oder Metronomen) lädt die Regisseurin und Komponistin Ada Milea, das Publikum im kleinen Euphorion-Studio ein, Müllers poetische und fragile Welt hautnah zu erleben. Drei Musiker und die stimmgewaltige Schauspielerin Anca Hanu schaffen es, Mileas Kompositionen virtuos umzusetzen.

 

(auch in www.aurora-magazin.at vom 27.11.2024)