Auf der Suche nach einem Zuhause – ein kleines Wort mit großer Bedeutung
(6. Oktober 2023)
Bereits zum 14. Mal fand heuer das Festival „dráMA“ in Odorheiu Secuiesc statt. Die Stadt, deren Volkszählung 2021 bei etwa 31.000 Einwohnern lag, ist eines der kulturellen Zentren des Széklerlandes in der rumänischen Region Siebenbürgen. Mit rund 27.000 Széklern, 3.000 Roma und nur 700 Rumänen stellt die ungarische Minderheit Rumäniens die Mehrheit der Bevölkerung in Odorheiu Secuiesc. Je zwei Produktionen pro Tag wurden vom 18. bis 23. September im Hauptsaal des lokalen Kulturhauses – der Spielstätte des ortsansässigen „Tomcsa Sándor“-Theaters – und im kleineren Studiosaal gezeigt. Direktor Pál Nagy betonte, dass das Programm im Gegensatz zu den Vorjahren fünf große Produktionen umfasste, um dem Interesse des lokalen Publikums gerecht zu werden. Zusätzlich zu den dreizehn abwechslungsreichen Vorstellungen bot sich für Theater-Interessenten die Gelegenheit, an einer Reihe von Publikumsgesprächen im Foyer des Kulturhauses sowie an einem interaktiven Theaterquiz teilzunehmen. Ein runder Tisch zum Thema „die Zukunft unserer Theater“ und ein täglicher geselliger Ausklang zu Musiktönen kurz vor Mitternacht rundeten das Programm ab.
Die Einzigartigkeit des dráMA-Festivals liegt in dem ausschließlich auf zeitgenössischen ungarischen und rumänischen Texten basierenden Angebot. „Jedes Jahr stellen sich die Fragen, ob es genügend hochwertige Produktionen gibt, die sich auf zeitgenössische Dramatik konzentrieren und mit welchen neuen theatralischen Mitteln sich Künstler diesen Texten nähern“, sagt Réka Dálnoky, die Hauptorganisatorin der Festspiele. Auf den ersten Blick lautete das von ihr gewählte Motto „Bist du... zuhause?“ (Otthon... vagy?). Doch nach einem Gespräch mit Réka Dálnoky stellte sich heraus, dass das ungarische Wort „vagy“ sowohl „(du) bist“ als auch „oder“ bedeuten kann, was zu einem Wortspiel führte, mit dem das Thema jeder Produktion kurz zusammengefasst wurde: „Krise... oder?“, „Familie... oder“, „Frieden... oder?“ usw. Namhafte Regisseur:innen wie Radu Afrim, Visky Andrej, Sebestyén Aba, Tóth Árpád wagten sich an Texte von Pass Andrea, Visky András, Lackfi János, Egressy Zoltán. Gianina Cărbunariu zeigte ihr eigenes Stück Magyrosaurus Dacus (lesen Sie hier eine ausführlichere Besprechung: http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_oradea_frm.htm). Sowohl staatlich geförderte Theater als auch Gruppen der freien Szene aus den entfernten rumänischen Städten Klausenburg, Temeswar, Großwardein (Oradea) und Suceava sowie aus der umgebenden Széklerland-Region reisten nach Odorheiu Secuiesc an. Neugierig machten ebenfalls die Gastpiele aus Györ und Budapest.
Doch wie folgt man als nicht ungarisch sprechende Zuschauerin einer Inszenierung in ungarischer Sprache? Glücklicherweise boten etliche Produktionen Übertitel auf Rumänisch oder Englisch an. So zum Beispiel Die jungen Barbaren, eine Koproduktion des Ungarischen Staatstheaters aus Klausenburg mit dem Stadttheater aus Gyula. Basierend auf den Biografien der ungarischen Komponisten Béla Bartók und Zoltán Kodály wird eine Fiktion konstruiert, die das Schicksal der genialen Künstler zeigt. Die Inszenierung des 29-jährigen ungarischen Regisseurs Attila Vidnyánszky jr. kombiniert geschickt Schauspiel, Choreografie, Popmusik und klassische Live-Musik. Unterschiedliche Stile – Slapstick, Musical, Improvisation, Tanz – fügen sich in schnell aufeinander folgenden Szenen an- und ineinander, und genau das macht den Charme dieser Produktion aus. Den Schauspielern gelingt es, die Geschichte eindrucksvoll darzustellen. Abgesehen von den beiden Protagonisten verkörpern alle anderen mehrere Rollen. Acht Schauspieler und vier Tänzer, die auf der Bühne oft von Mitgliedern des Musikensembles begleitet werden, erzeugen das Bild einer chaotischen Welt des späten 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts. Zwei Holzbretter und zahlreiche Eierkartons deuten das Bedürfnis der „barbarischen“ Komponisten an, sich von gesellschaftlichen Konventionen und propagandistischen Versuchen zu isolieren. Originelle Regieideen führen zu einer temporeichen Abenteuergeschichte mit schnellen Dialogen, bissigem Humor und einem sicheren Gespür für Timing und Situationskomik.
Mit Die Rückkehr von zu Hause brachte die Kunstuniversität aus Târgu Mureș Ştefan Caramans zwanzig Jahre altes Stück dem Publikum in einer packenden interaktiven Show wortwörtlich nahe. Der für eine einzelne Schauspielerin geschriebene Text wurde auf drei Darstellerinnen aufgeteilt, die damit erfolgreich ihre Masterprüfung ablegten. Neben den unterschiedlichen Persönlichkeiten der drei Protagonistinnen zeigte sich die Handschrift der Regisseurin Dana Lemnaru – zugleich Professorin des Schauspiel-Trios – vor allem in der kraftvollen Weise, sich mit den vielen Typologien der Frau künstlerisch auseinanderzusetzen. Geschickt meisterten die drei Absolventinnen den Übergang von einem Zustand in einen anderen und schafften es mit Leichtigkeit, das männliche Publikum zum Mitspielen zu animieren. Obwohl Themen wie gewalttätige Väter oder Abtreibung für einige Zuschauer etwas schwieriger zu verdauen waren, herrschten eine lockere Atmosphäre und eine gute Stimmung. Das machte es leicht für das Publikum, sich selbst mit den durchaus ambivalenten Figuren in der Inszenierung zu identifizieren.
Passenderweise wurde Matei Vişniecs Text Die Rückkehr nach Hause in das Festivalprogramm integriert. Eine ausführliche Besprechung der Produktion des Stadttheaters Suceava in der Regie von Botond Nagy ist unter http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/wolf_fitpti_22_frm.htm zu lesen. Ein weiteres Stück des bekannten rumänischen Dramatikers stand auf dem Programm. Am Einzelschicksal zweier Frauen führt Matei Vișniec in seinem Einakter Vom Geschlecht der Frau als Schlachtfeld – in der Koproduktion des gastgebenden „Tomcsa Sándor“-Theaters in Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater in Győr zu EXIT umbenannt – die sogenannten Randerscheinungen des Krieges vor Augen, schmerzhaft klar, jedoch mit einem Höchstmaß an Sensibilität. Zwei Frauen, ein Vergewaltigungsopfer, das schwanger ist, und ihre Therapeutin, die als Psychiaterin in einem internationalen Hilfsprogramm arbeitet, sind die Charaktere dieser Geschichte. Die Handlung spielt in Bosnien in den 1990er-Jahren. Vişniec hatte diesen Krieg sehr gut dokumentiert, da er damals für Radio France International tätig war. Im intimen Studiosaal des „Tomcsa Sándor“-Theaters gelingt es beiden Schauspielerinnen glaubhaft, die Traumata der Charaktere zu schildern. Ihre Rollen sind umso schwieriger, da die Protagonistinnen von allen vier Seiten von den Zuschauern umringt sind. Eine sehr intensive Inszenierung von Zalán Zakariás, die zum Nachdenken anregt über ein Thema, das leider auch heute noch äußerst aktuell ist.
Das gastgebende Theater präsentierte gleich zwei Produktionen. Ábel. im Wald, eine Adaption des ersten Teils der Roman-Trilogie des ungarischen Schriftstellers Áron Tamási stand genau am Tag der ungarischen Dramatik auf dem Programm (Dramatisierung und Regie Tóth Tünde). Ábel, der Protagonist von Tamásis bekanntestem Werk ist eine Sancho-Panza-ähnliche Hauptfigur, die auf der Suche nach Wahrheit durch die Welt von Abenteuer zu Abenteuer rast. Als einer der wichtigsten Vertreter der Székler-Literatur brachte Tamási einen neuen sprachlichen und thematischen Ansatz im siebenbürgischen literarischen Umfeld. „Unser Leben hat ein Ziel: uns in einer Ecke dieser Welt zu Hause zu fühlen“, sagt der Schriftsteller im letzten Teil seiner Trilogie. Was könnte passender für die diesjährige Ausgabe des dráMA-Festivals sein?
(siehe auch www.aurora-magazin.at vom 09.11.2023)